Die Piratenpartei hat eine Umfrage unter den Mitgliedern gemacht. Die Ergebnisse wurden heute veröffentlicht. Was auf den ersten Blick harmlos und positiv aussieht, zeigt in Wahrheit, auf wievielen Ebenen die Piratenpartei kaputt ist. Zeit für eine kleine Bestandsaufnahme:
Umfragen über das Internet per Limesurvey sind eine gute Sache, wenn ein Bezirksverband die nächsten Infotische planen will. Hier geht es jedoch um Wahlkampfstrategie, Weichenstellung für den nächsten Parteitag und die Bundestagswahl, inhaltliche Prioritäten sowie die Frage, ob der Bundesvorstand ganz oder teilweise neu gewählt werden soll. Diese Fragen sind zu wichtig, um sie einer Abstimmung per Wahlcomputer zu überlassen, die nicht mehr nachvollzogen oder ein zweites mal ausgezählt werden kann. Niemand kann nachträglich garantieren, ob die Umfrage manipuliert wurde oder nicht, und das ganz unabhängig vom persönlichen Vertrauen in die Vorstandsmitglieder und Beauftragten. Trotzdem werden die Ergebnisse dieser Umfrage die Geschicke der Partei dieses Jahr maßgeblich bestimmen.
Derlei Umfragen werfen etliche Probleme auf. Im hier gewählten Verfahren können die Mitglieder nur zwischen vorgegeben Varianten wählen. Ich kann mich nur zwischen A, B und C entscheiden, auch wenn ich vielleicht D möchte. In Systemen wie Liquid Feedback kann ich D einfach dazuschreiben und mit abstimmen lassen. In klassischen Umfragen geht das nicht. Heute haben mir auf Twitter mehrere Leute versichert, dass sie gerne auch für ständige Mitgliederversammlung abgestimmt hätten, dieses aber nur im Packet mit einem dreitägigen Parteitag ging, sie aber gerne einen zweitätigen gehabt hätten. Ein sauberes Design für die Umfrage wäre gewesen, die Zahl der Tage und die Art der Parteitagsinhalte getrennt abzufragen. Wurde aber nicht gemacht. Ob das Absicht oder Unfähigkeit war, ist dabei schwer zu sagen.
Überhaupt ist die ständige Mitgliederversammlung ein Streitthema innerhalb der Partei, wobei es weniger um das Ob als um das Wie geht. Um die Wogen zu glätten und einen für möglichst viele Mitglieder gangbaren Kompromiss zu finden, veranstaltet der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern in einer Woche die SMVcon, eine Konferenz, die Anträge zur ständigen Mitgliederversammlung für den Bundesparteitag vorbereiten soll. Die Teilnehmer werden nun wahrscheinlich vergeblich nach Rostock reisen, da die Umfrage elegant eine Woche vorher dazwischen grätscht und die ständige Mitgliederversammlung von der Tagesordnung des nächsten Parteitages kegelt. Diese Umfrage fragte nicht nur harmlos ein Meinungsbild abzufragen, sondern diente auch der Beeinflussung des Bundesparteitages im Vorfeld. Ein Schelm wer böses dabei denkt.
Bei der Umfrage ging es nicht nur um Inhalte, sondern auch um Personen. In Demokratien werden Leute in Ämter gewählt und können abgewählt werden, wenn sie anders handeln als von ihren Wählern erhofft. In krassen Fällen treten sie zwischendurch zurück. Die Bewertung obliegt dem Wähler und den Medien. Kopfnoten per Online-Umfrage zu verteilen, ist ein einmalig absurder Vorgang. Aus guten Gründen gibt es die strikte Regel, dass beispielsweise in Liquid Feedback Abstimmungen über Personen streng untersagt sind. Dass der Bundesvorstand die Frage nach seiner Neuwahl und den Kopfnoten freiwillig stellt, macht die Sache nicht besser. Bernd Schlömer hat schon auf dem letzten Parteitag in Bochum die Frage gestellt, ob im Mai neu gewählt werden soll, und eine Antwort erhalten (soll nicht). Damit sollte klar sein, dass der Bundesvorstand nicht neu gewählt wird, es sei denn, man bewertet ein obskures Umfrageergebnis höher als den Parteitag, immerhin das höchststehende Organ in einer Partei.
Mit den Kopfnoten gibt es aber noch ein anderes Problem: Aus Gründen, die jenseits vom Sandalen-Auftritt in einer Talkshow niemand so recht nachvollziehen kann, steht Johannes Ponader seit Monaten in der Schusslinie. Zwar versichern viele Leute glaubhaft, dass sie mit ihm nicht zusammen arbeiten können, aber was genau er eigentlich verbrochen hat, konnte noch keiner so recht schlüssig zusammenfassen. In dieser aufgeheizten Anti-Ponader-Stimmung war es klar, dass eine solche Umfrage einer öffentlichen Hinrichtung gleichkommen musste. Die Mitglieder wurden eingespannt, um den politischen Geschäftsführer zu mobben, und Tausende machten willig mit. Da weiß man gar nicht, ob man sich den Rücktritt des Bundesvorstandes oder den Rücktritt der Basis wünscht.
Zurück zu den Inhalten: Herbst 2011 und Frühjahr 2012 sind zahllose Neumitglieder der Piratenpartei beigetreten. Ich habe natürlich keine validen Daten und kann nur für mein Umfeld sprechen, aber es sah doch so aus als ob die meisten wegen des Themas „Bedingungsloses Grundeinkommen“ zur Piratenpartei fanden und die zweitmeisten wegen Liquid Democracy. In der Umfrage wurde „Bedingungsloses Grundeinkommen“ als Wahlkampfthema recht weit nach hinten gewählt und ein deutliches Statement darüber abgegeben, dass eine Abstimmung über die ständige Mitgliederversammlung auf dem nächsten Parteitag nicht erwünscht ist. Sehr viele Menschen, die vor einem Jahr wegen genau dieser Themen eingetreten sind, muss sehr dass sie wohl für die Bundestagswahl eine allenfalls untergeordnete Rolle spielen sollen.
Absurderweise wurde aber zugleich „Arbeit und Soziales“ als Parteitagsthema ganz nach oben gewählt, obwohl die Piratenpartei dort programmatisch jenseits des BGE und „Hartz IV humanisieren“ fast nichts zu bieten hat. Und ebenso absurderweise wurde das Thema „Demokratiereform/Mitbestimmung“ weit nach vorne gewählt, obwohl die Piratenpartei dieses Versprechen für sich selbst nicht einlöst. Mehr Plebiszite – das steht heute in nahezu jedem Parteiprogramm, aber eine Vision jenseits dessen, wie die Piratenpartei mehr Mitbestimmung organisieren will, bietet sie jenseits von Liquid Democracy bis auf weiteres nicht an. Wenn die Piratenpartei nicht gewillt ist, das zu ändern, droht das Versprechen von mehr Mitbestimmung schon vor der Wahl zur Wahlkampflüge zu verkommen. Wahlkampflügen, das sind die Dinger, wegen derer wir früher Nichtwähler waren und Piraten wurden.
Auch der Rest der Umfrage mutet seltsam an. Energiepolitik wird z.B. weit nach vorne gewählt. Da will die Piratenpartei ernsthaft den wesentlich kompetenteren Grünen Konkurrenz machen, statt eigene Themen nach vorne zu schieben? Oder Wirtschaft und Finanzen, das hatten wir doch schon ausgiebig auf dem letzten Parteitag. Wirklich absurd wird die Geschichte dann aber wenn ausgerechnet Sebastian Nerz, der nicht müde wird, Liquid Feedback, Liquid Democracy und die ständige Mitgliederversammlung als „undemokratisch“ zu bezeichnen, Teilergebnisse der Umfrage, die sich mit der Wahlkampfstrategie befassen, auf der Marina Kassel vorzustellen und somit in die Strategieplanung einfließen zu lassen. Jedenfalls war das so geplant.
Ich habe übrigens selber nicht an der Umfrage teilgenommen. Ich habe sie erst überflogen, fand dann aber nicht die Zeit und konnte meine Stimme nicht delegieren…
tldr: Die Piratenpartei stimmt per Wahlcomputer darüber ab, dass es erstmal keine ständige Mitgliederversammlung geben soll, will Themen in den Vordergrund stellen, zu denen sie keine nennenswerten Inhalte zu bieten hat, stellt Inhalte hinten an, die bisher als Alleinstellungsmerkmal galten und instituionalisiert Mobbing der Basis gegen ein Vorstandsmitglied.
7 Antworten zu „Eine scheinbar harmlose Umfrage zeigt, auf wieviel Arten die Piratenpartei kaputt ist (Update)“