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  • Ehe für alle – Ehe für niemand – Ehe für wen?

    tl;dr: Wir müssen einmal grundlegend verhandeln, was „Ehe“ eigentlich sein soll.

    ehefueralle

    Die Debatte um die „Homo-Ehe“ hat ihren traurigen Höhepunkt mit der Äußerung der saarländischen Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), die gleichgeschlechtliche Ehe führe zu vermeintlich schlimmen Dingen: „…etwa eine Heirat unter engen Verwandten oder von mehr als zwei Menschen. Wollen wir das wirklich?“. Traurig ist das deshalb, weil sie die „Homoehe“ damit auf eine Stufe mit Dingen stellt, auf die der Deutsche Michel gerne mit Ekel und Empörung reagiert. Noch trauriger ist, dass tatsächlich darauf mit Ekel und Empörung reagiert wird und Verfechter der „Homoehe“ sich nun teilweise vom Thema Verwandten- und Mehrehe abgrenzen. Denn wir werden tatsächlich über diese Fragen reden müssen – und zwar vollkommen unabhängig von der „Homoehe“.

    Um die deutsche Debatte verstehen zu können, muss man* zunächst einmal verstehen, dass wir verschiedene Konzepte von Ehe haben, die wir miteinander verrühren. Das führt teilweise zu widersprüchlichen Meinungen und Emotionen. Ein wenig Geschichte: Die Ehe, wie wir sie heute in den westlichen Gesellschaften kennen, ist religiösen Ursprungs und konnte bis ca. 1850 in Deutschland nur kirchlich geschlossen werden. Sie diente als Bündnis zwischen Mann und Frau und war vollkommen darauf ausgerichtet, Sexualität und Reproduktion zu regulieren. Eigentlich ging es auch nicht um die Beziehung zwischen den beiden Ehegatten sondern um die Beziehung zwischen den beiden Familien, die die Ehe arrangiert haben. Heiraten durften Männer jahrhundertelang nur, wenn sie nachweisen konnten, dass sie die nötigen Mittel haben, um eine Familie zu ernähren. Da zugleich Sex außerhalb der Ehe ein schweres Vergehen war, waren große Teile der Gesellschaft überhaupt von Ehe, Sex und eigenen Kindern ausgeschlossen. Um Liebe ging es dabei nicht – Ehen wurden meist arrangiert und wenn sich die Eheleute trotzdem mochten, hatten sie Glück. Eheleute hatten die Pflicht, einander für Sex bereitzuhalten. Oft wurde von der Gemeinschaft überprüft, ob das Ehepaar auch wirklich Sex in der Hochzeitsnacht hatte und die Ehe konnte bei Kinderlosigkeit annuliert werden. Uneheliche Kinder wiederum wurden an den Rand der Gesellschaft gedrängt und ihre Mütter lebten „in Schande“, und zwar in Deutschland noch bis vor wenigen Jahrzehnten und teilweise noch heute: Eine Frau, die Kinder allein erziehend durchbringen möchte, wird immer noch sozial und ökonomisch dafür bestraft. Die Frau war in der Ehe eine billige Arbeitskraft, die den Haushalt für den erwerbstätigen Mann aufrecht erhielt. Frauen mussten häufig heiraten, da ihre Herkunftsfamilien es sich nicht leisten konnten, sie längere Zeit durchzufüttern. Die einzige Alternative zur Ehe war für Frauen oft der Gang ins Kloster, während Männer leicht auch als Junggesellen in Freiheit alt werden konnten.

    Diese Form der Ehe ist aus heutiger Sicht eine vergiftete Angelegenheit. Als Ende des 18. Jahrhunderts die Menschenrechte definiert wurden, wurde auch klar, dass die Ehe voller Menschenrechtsverstöße – insbesondere gegenüber Frauen – steckt. Aus diesem Grund wurde in den westlichen Ländern in den Jahrzehnten danach die Zivilehe eingeführt und die Ehegesetzgebung nach und nach angepasst. Die Zivilehe wurde nötig, weil die katholischen und Teile der evangelischen Kirchen sich weigerten, Menschen zu trauen, die weder katholisch noch evangelisch waren. Um diesen Bruch der Religionsfreiheit zu beheben, wurde um 1850 herum die Möglichkeit eingeführt, vor Standesämtern zu heiraten. 1876 wurde diese Zivilehe obligatorisch, als der Staat bemerkte, dass es praktisch und sinnvoll ist, eigene Ehe-Register zu führen.

    Seitdem hat der Staat die Ehe immer weitergehend reformiert – in erster Linie um sie an (Menschen)Rechte und Menschenwürde anzupassen. Hier die westdeutsche Entwicklung, die in der DDR anders verlief: 1950 definiert der Staat die bürgerliche Ehe als „Vertrag auf Lebenszeit“ und „Zugewinngemeinschaft“. Dieser Logik folgend gab es zahlreiche Reformen, die meistens dazu dienten, Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann herzustellen. 1956 schaffte Baden-Württemberg als letztes Bundesland das „Lehrerinnenzölibat“ ab, wonach nur unverheiratete Frauen Lehrerin sein konnten und im Falle einer Heirat sämtliche Pensionsansprüche verloren. 1958 verlor der Ehemann das Recht, in allen Ehebelangen immer die letzte Entscheidung zu haben und beispielsweise den Job seiner Frau über ihren Kopf hinweg zu kündigen. Den Antritt einer neuen Stelle durfte er ihr jedoch weiterhin verbieten. Ebenfalls 1958 wurde der Begriff der eheähnlichen Gemeinschaft im Sozialrecht eingeführt, damit Paare, die in „wilder Ehe“ zusammenleben, nicht doppelt Sozialleistungen beziehen können. Das ist bemerkenswert, weil erst 1969 das „Kuppeleiverbot“ abgeschafft wurde. Es verbot Vermietern, Wohnungen an nicht verheiratete Paare zu vermieten. Außerdem ist seit 1969 „Ehebruch“, also Sex Verheirateter außerhalb der Ehe, keine Straftat mehr. 1977 werden Bindestrich-Namen eingeführt. Seitdem darf der Ehemann seiner Frau auch nicht mehr verbieten, eine berufliche Stellung anzutreten. Scheidung ist möglich, ohne dass einer der Eheleute noch „Schuld“ an der Scheidung tragen muss. Ehebruch kann nicht mehr dazu führen, dass der „schuldige“ Ehepartner Unterhaltsansprüche verliert. Zivilrechtlich spielt der Begriff „Ehebruch“ nur noch eine Rolle, wenn er in der gemeinsamen, ehelichen Wohnung stattfindet. 1979 wurden die letzten väterlichen Vorrechte bei Entscheidungen über Erziehungsfragen abgeschafft. 1980 schafft das Transsexuellengesetz die Möglichkeit, das Geschlecht zu ändern. Verheiratete Transsexuelle mussten sich allerdings vohrer scheiden lassen. 1997 wird Vergewaltigung in der Ehe strafbar – früher war sexuelle Verfügbarkeit noch als eheliche Pflicht angesehen worden. 2001 wurde die „Verpartnerung“ Homosexueller eingeführt, eine Art Ehe light ohne Ehegattensplitting und Adoptionsrecht (außer bei Stiefkindern) und zahlreichen weiteren Nachteilen gegenüber der Ehe. Seit 2009 ist es möglich, kirchlich zu heiraten, bevor das Standesamt aufgesucht wird. Rechtlich gesehen gelten solche Paare als unverheiratet, bis sie sich auch im Standesamt trauen lassen. Verheiratete Transsexuelle müssen sich vor einer geschlechtsangleichenden Operation nicht mehr scheiden lassen. Defacto ist auf diesem Wege eine vollwertige Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern heute schon möglich.

    Dass die Debatte rund um „Homoehe“ und #ehefueralle so verquer ist, liegt daran, dass sich die Konzepte, die Menschen heute von Ehe haben, stark unterscheiden und gleichzeitig überschneiden. Zunächst das religiöse Konzept: Eheverbote, die religiös begründet sind, können kein Maßstab für die Allgemeinheit sein, da Menschen nunmal verschiedenen Glaubensrichtungen anhängen. Es geht die Allgemeinheit schlicht und ergreifend nichts an, ob Aspekte einer Ehe den Vorschriften einer Glaubensgemeinschaft zuwiderlaufen. Privilegien und religiös begründete Ehegesetze sind ein Eingriff in die Glaubsfreiheit der Bürger_innen. Gerade das war ein Grund, vor 150 Jahren die Zivilehe einzuführen. Ein säkularer Staat darf sich bei seiner Gesetzgebung nicht auf religiöse Argumente stützen. Leider ist Deutschland kein säkularer Staat.

    Jenseits religöser Konzepte gibt es das Konzept von Ehe als Keimzelle der Familie und geschützten Raum für Nachwuchs. Böse ausgedrückt müssen wir ein solches Ehebild als Reproduktionsinkubator bezeichnen. Hier ist die aktuelle rechtliche Situation geradezu absurd, solange kinderlose Ehepaare vom Ehegattensplitting profitieren während die Eltern unehelicher Kinder und Alleinerziehende immer noch große Nachteile erfahren. Wer Familie als (potenzielles) Vorhandensein von Kindern definiert, muss solche Ungerechtigkeiten abschaffen und darf sie nicht vom Trauschein der Eltern abhängig machen – bis hin zum vollen Adoptionsrecht homosexueller Paare. Schließlich ist davon auszugehen, dass es Kindern in einer gleichgeschlechtlichen Familie besser geht als im Heim. Bei diesem Konzept stellt sich auch die Frage, welchen Sinn eine Eheschließung hat, schließlich beginnt Familie hier mit der Geburt von Nachwuchs und es gibt keinen Grund, sie eher beginnen zu lassen. Eine automatische Eheschließung bei Geburt wäre allerdings eine Zumutung für all die Paare, die Kinder bekommen haben, aber gar nicht zusammenleben wollen. Die Ehe an das potenzielle Vorhandensein von Kindern zu binden, ist aus der gesellschaftlichen Realität heraus ziemlich unsinnig.

    Bleibt das Konzept der Ehe als Lebensbündnis. Menschen leben zusammen und übernehmen Verantwortung füreinander. Das hat viel mit Liebe, Verantwortung und Selbstverpflichtung zu tun. Menschen dieses zu verbieten, beispielsweise weil sie gleichgeschlechtlich sind, verhöhnt diese Menschen und ihr Ansinnen. Dass den Staat oder die Allgemeinheit ein solches Lebensbündnis nichts angeht, ist zu kurz gedacht: Staat und Gesellschaft sollen nämlich wissen, dass es Menschen in meinem Leben geben könnte, die für mich über meine Angelegenheiten mitbestimmen – beispielsweise wenn ich dement bin oder eine Zeugenaussage über meinen Partner vor Gericht verweigern will. Die Ehe als Privileg für heterosexuelle Mann-Frau-Paare diskriminiert alle anderen Konstellationen.

    Zurück zu Kramp-Karrenbauer: Natürlich müssen wir über Polygamie und Ehe unter Verwandten sprechen und werden das auch  bald tun, und zwar vollkommen unabhängig von der gerade laufenden Diskussion um die „Homoehe“. Zwei Beispiele:

    Betrachten wir die Ehe als Lebensbündnis, bei dem Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, spricht sowieso kein rationaler Grund gegen die Mehrehe. Aber selbst wer Ehe am Vorhandensein von Nachwuchs festmacht, muss umdenken. Biologisch ist es mittlerweile möglich, dass ein Kind drei Eltern hat. Wenn eine Frau keine eigenen Kinder bekommen kann, kann sie den Zellkern ihrer Eizellen in die Eizelle einer anderen Frau einsetzen lassen. Da diese Eizelle eigene Mitochondrien hat, vermischt sich das Ergbut dreier Menschen – das zweier Mütter und eines Vaters. Derlei ist beispielsweise im Derzeit-Noch-EU-Mitglied Groß-Britannien legal. Mit welchem Recht wollen wir einer solchen zu schützenden Familienkonstellation die Mehrehe samt aller Rechte für alle drei Ehepartner verwehren? Selbst wer die Ehe als Reproduktionsinkubator sieht, kann sich nur schwer gegen eine solche Argumentation sperren. Bleiben lediglich religiöse Gründe, die in einem säkularem Staat wie gesagt keine Rolle spielen dürfen.

    Ebenfalls müssen wir die Ehe unter Verwandten diskutieren. Auch hier gilt: Betrachten wir die Ehe als reinen Lebensbund, der losgelöst von jeder Sexualität und Reproduktion funktionieren kann, darf sowieso nichts gegen eine solche Ehe sprechen. Wenn wir hingegen die Ehe als Keimzelle für Kinder betrachten, ist die Lage ebenfalls alles andere als klar. Der deutsche Ethikrat hat genau das kürzlich verhandelt, beispielsweise anhand des Falles zweier Halbgeschwister, die getrennt aufwuchsen und sich später ineinander verliebt haben. Sexuelle Handlungen zwischen solchen Partnern stehen unter Strafe. Dies hat zwei Begründungen. Die biologische Begründung ist die Angst vor möglichen Erbkrankheiten. Stand der Wissenschaft ist jedoch, dass die Gefahr von Erbkrankheiten nicht mit vom Verwandtschaftsgrad sondern vom individuellen Risiko abhängt. Wenn wir Menschen das Recht auf einvernehmlichen Sex unter Erwachsenen aus biologischen Gründen absprechen, müssen wir das ohne Ansehen des Verwandtschaftsgrades tun. Beispielsweise wie in Ghana: Dort gab es ein Dorfgesetz, dass gehörlosen Menschen verbietet, andere Gehörlose zu heiraten. In der Folge gab es tatsächlich weniger gehörlose Kinder aber eben auch mehr nicht funktionierende Ehen. Bei uns gibt es in keinem andren gesellschaftlichen Bereich ein Sex- oder Eherverbot wegen möglicher Erbkrankheiten außer im Falle einer Verwandtschaft. So etwas biologisch an der „Reinheit des Erbgutes“ festzumachen, führt uns direkt in die Logik einiger Gesetze aus der Nazizeit. Dementsprechend empfiehlt auch der Ethikrat die Legalisierung von Sex unter Verwandten in bestimmten Konstellationen. Wenn der legal ist und sich gar Nachwuchs einstellt, bleibt die Frage, welchen Sinn dann noch ein Eheverbot haben soll. Von einer gesetzlichen Regelung in dieser Frage sind wir allerdings weit entfernt – an diesem Thema möchte sich lieber kein Politiker die Finger schmutzig machen. Der zweite Grund eines Verbotes der Ehe unter Verwandten ist ein psychologischer. „Waren deine Eltern Geschwister?“ ist ein beliebtes wie ekelhaftes Schimpfwort. Die Ehe unter Verwandten stößt an ein Tabu, das inernational höchst unterschiedlich geregelt ist: von der völligen Legalisierung bis hin zum Eheverbot, wenn zwei Menschen auch nur den gleichen Nachnamen tragen, ohne biologisch miteinander verwandt zu sein, was auf die Vorstellung von Ehe als Beziehung zwischen zwei Familien zurückgeht. Tatsächlich dürfte es zumindest in der heutigen Gesellschaft für Familien schwerwiegende psychologische Folgen haben, wenn miteinander aufgewachsene Familienmitglieder untereinander heiraten. Bei getrennt aufgewachsenen Geschwistern hingegen, die vielleicht nicht einmal was voneinander wussten, sieht das durchaus anders aus. Lieber Leser, bevor du jetzt empört im Blog kommentieren willst, bitte ich dich, die Argumentation des Ethikrates einmal genau nachzulesen.

    Annegret Kramp-Karrenbauer hat also – wahrscheinlich ohne das zu wollen – eine Tür aufgestoßen, einmal wirklich grundlegend über Ehe und ihre Bedeutung und die gängigen Eheverbote zu diskutieren. Wäre das nicht der Versuch gewesen, die gleichgeschlechtliche Ehe zu diskreditieren, wäre das eine gute Sache gewesen. Hier wird auch klar, dass die Vertreterin einer Partei, welche ein „C“ im Namen trägt, geradezu gegen die gleichgeschlechtliche Ehe sein muss. In dieser Debatte muss man* sich klar machen: Wer „Homoehe“ durch #ehefueralle ersetzt, meint damit (vielleicht ohne es zu wollen?) auch weitere Konstellationen wie Mehrehe und Ehe unter Verwandten. Wer gegen die „Homoehe“ oder #ehefueralle ist, sollte zunächst einmal über die eigene Haltung zur Ehe nachdenken – religiöses Sakrament, Reproduktionsinkubator oder Lebensbund? Und je nach Ergebnis noch einmal darüber nachdenken, wie die eigene Ablehnung von „Homoehe“ oder #ehefueralle dazu passt.

    Meiner Meinung nach wäre es tatsächlich am besten, die Zivilehe einfach abzuschaffen. Auf Kinder bezogene Privilegien der Ehe sollten auf tatsächliche Eltern übergehen und automatisch ab Geburt eintreten. Einvernehmliche Lebensbündnisse unter Erwachsenen sollten alle Menschen egal in welchen Konstellationen eingehen dürfen und dieses dem Staat anzeigen, damit solche Lebensbündnisse unter rechtlichen Schutz gestellt werden können. Der Begriff „Ehe“ ist zu missverständlich und sollte jenseits aller staatlichen Regelungen eine private Angelegenheit sein. Die Ehe als Ritus oder Sankrament kann weiterhin von den Anhängern verschiedener Religionen und Weltanschauungen mit ihrem bevorzugten Riten öffentlich oder privat eingegangen werden. Von der pompösen Hochzeit in Weiß vor dem Domaltar bis zum stillen Versprechen ohne störende Zeugen, das sich zwei Atheisten gegenseitig unterm Sternenhimmel geben, mit oder ohne Monogamie sind viele Formen von Ehe möglich – sollten aber keinerlei rechtliche Folgen mehr haben.

    P.S.: Und irgendwann reden wir dann nochmal darüber, ob eine Scheidung, die für alle beteiligten emotional schon Strafe genug ist, wirklich eine Gerichtsverhandlung mit Kosten in vierstelliger Höhe sein muss, statt sie einfach genauso wie eine Zivilehe vor dem Standesamt zu erklären.

    Update: Bitte lest auch ergänzend den unten stehenden Kommentar von Antje Schrupp, die das ganze um Aspekte erweitert, die ich nicht auf dem Radar hatte.

  • Meine Highlights der re:publica 2015

    tl;dr: Besser spät als nie.

    Johannes Kleske nimmt das Thema Automatisierung auseinander und kommt zum Ergebnis, dass Maschinen uns nicht arbeitslos machen sondern unsere Chefs werden.

    Ein wundervoller Vortrag voller Humor, Wahrheit und Freundlichkeit von Felix Schwenzel  (entschuldigt mein Pathos). Allein die Einstiegsthese ist großartig: „Real Life ist Realitätsflucht“

    Stefan Noller über das „Internet der Dinge“, welche Chancen wir durch Technisierung und Digitalisierung haben, aber auch welchen Gefahren den so entstehenden Ökosystemen durch Kommerzialisierung drohen. Da vertritt er einen Punkt, der auch dem Cyborgs e.V. zentral ist.

    The Internet is for porn. Von diesem Satz war es ein gutes Stück, bis klar wurde, dass sich im Netz Menschen zusammen finden, die das mit dem Sex, Sexismus und Rollenzuschreibungen ganz anders sehen. Elle Nerdinger hat das wundervoll zusammengefasst.

    Anne Wizorekt stellt ein paar Begriffe wie „Meinungsfreiheit“, „Hate Speech“, „Shitstorm“ und „Trollen“ vom Kopf auf die Füße.

    Zygmund Baumanns Gesellschaftsanalyse zwischen Postprivacy und Cocooning

  • Links der Woche

    • Forgotten fairytales slay the Cinderella stereotype:

      The stash of stories compiled by the 19th-century folklorist Franz Xaver von Schönwerth – recently rediscovered in an archive in Regensburg and now to be published in English for the first time this spring – challenges preconceptions about many of the most commonly known fairytales.

      Harvard academic Maria Tatar argues that they reveal the extent to which the most influential collectors of fairytales, the Brothers Grimm, often purged their stories of surreal and risque elements to make them more palatable for children.

    • Waterboarding für den gemeingefährlichen Irren! Deutsche Journalisten über Claus Weselsky:

      “Wortmeldungen deutscher Journalisten über den GDL-Chef gesammelt. Es ist ein beeindruckendes Dokument, das man vielleicht auch bei der nächsten Diskussion hervorholen könnte, in der sich Journalisten darüber beklagen, was für ein schlimmer, unsachlicher Pöbelton im Internet herrscht. Es bestärkt den Verdacht, dass das eigentliche Problem, das viele Journalisten mit sogenannten Shitstorms haben, darin besteht, dass sie das Monopol darauf verloren haben.“

    • Piratenpartei: Innerparteiliche Beteiligung am Ende:

      “Dahingegen sucht man “Asyl” oder “Flüchtlinge” vergeblich. Genauso fehlt “Sozialpolitik”, “Arbeit”, “Medien” oder schlicht “Netzpolitik”. Gleichstellung der Geschlechter wird mit Familienpolitik zusammengelegt. Den Punkt “Teilhabe” gibt es nur als “Teilhabe am digitalen Leben” – Teilhabe am analogen Leben ist nicht vorgesehen. “

  • Homophobie, Loyalität und Don Alphonso

    tl;dr: Ja, nein, nein.

    zeitungen

    Ja, die Kolumne „Unsere Töchter schützen“ im Westfalenblatt ist homophob. Kinder reagieren, solange sie von ihren Erziehungsberechtigten nicht neurotisiert wurden, ungefähr so.

    Nein, es ist nicht O.K., dass die Autorin Barbara Eggert dafür gefeuert wurde. Erstens weil: Meinungsfreiheit (auch wenn ich ihre Meinung unmöglich finde). Zweitens weil alle Menschen Fehler machen und erst wiederholtes Versagen ein Grund sein sollte, jemanden zu feuern. Drittens weil die Verantwortung, was gedruckt wird, beim Chefredakteur liegt. Ein guter Vorgesetzter hat sich im Shitstorm schützend vor seine Untergebenen zu stellen. Ein guter Chefredakteur sollte bestimmte Artikel im Vorfeld verhindern. Beim Westfalenblatt wurde die falsche Person gefeuert.

    Nein, deshalb haben die ganzen Don Alphonsos trotzdem nicht recht, die jetzt einem „Mob“ die Verantwortung dafür geben. Verantwortlich sind die Personen, die gehandelt haben, und zwar für ihr eigenes handeln. Die Don Alphonsos nutzen die ganze Story nur mal wieder, um Menschen einer bestimmten Geisteshaltung anklagen zu können. Subtil argumentieren sie die Homophobie weg. Weniger subtil benennen sie als Schuldige „den Mob“ und alle Leser wissen wer gemeint ist und wen sie als nächstes mal wieder auf Twitter mit Mord- und Vergewaltigungsdrohungen das Leben versüßen können.

  • Links der Woche

    • Twitter versetzt Finanzalgorithmen in Panik – Spektrum der Wissenschaft:

      “Eine einzige Twitternachricht vernichtete an diesem Tag vorübergehend Werte in Höhe von 136 Milliarden Dollar, weil sie automatische Handelsprogramme zum Verkaufen von Aktien animierte.“

    • Warum wir Überwachung nicht verhindern werden, wenn wir nicht etwas anderes grundlegend ändern…:

      “Cory Doctorow erklärte – ebenfalls auf der re-publica – warum wir den Kampf gegen Überwachung verlieren werden. Ein wichtiger Punkt (von mehreren): Menschen sind misstrauisch. Sie wollen zwar selbst nicht überwacht werden, aber sie sagen im gleichen Atemzug, dass es leider nötig ist, alle anderen zu überwachen.“

    • Eine neue Netzerzählung – connected:

      “Die Versprechen der Vergangenheit sind nicht eingelöst: Mehr Information hat weder mehr Wohlstand gebracht noch bestehende Macht ernsthaft in Frage gestellt. Im besten Falle wurde ein alter Gatekeeper durch einen neuen ersetzt. Der tief im Digitalen Dualismus verankerte Glaube, das Netz würde die Strukturen der „alten Welt“ hinwegfegen, hat sich ebenso wenig bewahrheitet wie die Chimäre, das Internet wäre kein kapitalistischer Raum und nicht den Mechanismen solcher Räume unterworfen.“

    • Irgendwas stimmt mit Rechtsstaat nicht!:

      “Der Bürger wurde vom geschützten und unterstützten Mitglied der Gesellschaft zum mutmaßlich betrügerischen Bittsteller.”

    • Plattformprivacy:

      “Plattformprivacy ist nach oben offen (Facebook, Staat, Geheimdienste) und zu den Seiten geschlossen (Privacysettings). Das reicht den meisten Menschen, denn im Gegensatz zur Datenschützer-Szene war für sie Privacy nie ein Selbstzweck, sondern immer Tool zur alltäglichen Lebensführung. Deswegen war die Privatsphäre gegenüber der eigenen Mutter schon immer wesentlich wichtiger, als die gegenüber der NSA. Plattformprivacy ist die Zukunft der Privatsphäre und gleichzeitig eine Datenmonopolisierung weit größeren Ausmaßes, als wir es uns haben vorstellen können.”

    • Seit 2013:

      “Warum ich auf YouTube Musik covere: Ich covere gelegentlich Musik. Das passiert unregelmäßig, aber es passiert. Eigentlich würde es mir reichen, die Songs als Audio aufzunehmen und auf Soundcloud oder einem ähnlichen Dienst für Audiodateien hochzuladen, doch das birgt Probleme. Oder eigentlich…”

  • Notiz über Plattformen

    tl;dr: Was passiert eigentlich mit Plattformen, wenn die Grenzkosten zum Erstellen von Plattformen gegen Null gehen?

    plattform

    Der Begriff der „Plattform“ wird gerade rauf- und runterdiskutiert. Plattformen basieren auf Netzwerken, stellen aber wiederum Netzwerke zur Verfügung. Wer sie kontrolliert, gewinnt staatenähnliche Macht und stellt den Staat in Frage. Der Plattformkapitalismus macht Daten, die über über die Mitglieder gewonnen werden können, zu Geld (sei es durch Einblendung von Werbung oder auch einfach dadurch, seine Dienstleistung besser maßschneidern zu können, wie Netflix das zum Beispiel versucht). Es bilden sich die Begriffe des Plattformkapitalismus bis hin zum Plattform-Monopol heraus (Hallo Facebook!). Also alles dasselbe, wie immer mit dem Kapitalismus, nur eine Umdrehung weiter?

    Es besteht einige Einigkeit darüber, dass das Internet Geschäftsmodelle zerstört, weil es die Grenzkosten der Distribution drastisch senkt. Es ist nunmal viel billiger, einen Artikel ins Web zu stellen als ihn zu drucken, und wenn er erstmal drin ist, fallen eigentlich nur noch Fixkosten für Server an, während andere weiter drucken, drucken und drucken müssen – nur ein Beispiel. Plattformen machen sich diesen Effekt durch Entwicklung mal mehr, mal weniger guter Algorithmen zu Nutze.

    Die minimalen Grenzkosten führen überhaupt erst in den Plattformkapitalismus und der Weg scheint unausweichlich, mit allem, was gesellschaftlich so dranhängt wie z.B. der Postprivacy. Was aber, wenn die Grenzkosten für Plattformen selber sinken? Wenn es immer billiger wird, durch einmal aufgestellte Frameworks und semi-intelligente Algorithmen immer neue Plattformen zu Grenzkosten gegen Null auf die Beine zu stellen? Dann steht eigentlich nur der Plattform-Effekt („Alle sind auf der Plattform, wo alle anderen auch sind, die anderen verlieren“) einem Erodieren der Plattformen im Wege. Dass dieser Effekt nicht stabil ist, zeigen zahllose Dienste, die mal der heiße Scheiß waren und heute untergegangen sind.

    Fressen die Plattformen am Ende sich selbst? Nur ein loser Gedankengang, von dem ich noch nicht so genau weiß, wohin damit.

  • Links der Woche

    • Was, so viele Schulschwänzer im Knast?:

      “Was ist eine gerechte Strafe für chronisches Schulschwänzen? Deutschland hat diese Frage beantwortet: der Knast. In einigen Gefängnissen ist jeder dritte oder vierte Insasse wegen Schulverweigerung hinter Gittern.“

    • Claus | Frau Haessy schreibt.:

      “Denn ich kann nur inständig hoffen und beten, dass ich, wenn ich einmal alt und einsam bin und verzweifelt reden möchte, auch auf Menschen treffe, die mir 33 Minuten ihrer Zeit schenken.“

    • Geworfen 2: Titanenkämpfe | Christoph Kappes:

      “Die Medienwelt in Aufregung zu Facebooks Instant Articles (…) und auch zur sogenannten “Digital News Initiative” von Google. (…) Über “Evilness” durch Biegen grundlegender gesellschaftlicher Vereinbarungen will ich mich hier nicht auslassen. Wenn das Argument gegen solche Partnerschaften moralisch ist, soll man es begründen und gern ausgiebig diskutieren. Hier nur eine sachliche Sicht.”

    • instant articles = gepimptes RSS zu facebook-bedingungen:

      “so richtig neu ist die idee nicht. es gibt eine gut etablierte technologie, die die verlage allerdings nach leibeskräften vermeiden: volltext RSS”

  • Mein Talk auf der re:publica 2015

    strom

    Am Donnerstag um 13:45 Uhr werde ich auf STG-11 der re:publica sprechen. Es wird um Transhumanismus, die Singularität und Cyborgism gehen. Ich werde versuchen einzuordnen, wie relevant all die Themen eigentlich wirklich sind, die gerade unter den genannten Stichworten diskutiert werden und in die Popkultur gesickert sind. Der Titel nimmt einen Teil meines Fazits vorweg: „Vergiss Kurzweil“. Dabei wird es aber natürlich nicht bleiben.

    Update: Ich weiß nicht, ob es ein Video davon gibt – habe keine Kamera gesehen. Allerdings gibt es eine Audioaufzeichnung/Podcast, die auch ohne Präse erstaunlich gut funktioniert, und zwar hier.

  • Links der Woche

    • Gleichstellungs-Elend in a Nutshell:

      “Isa Sonnenfeld von Twitter Deutschland hat  in einem Interview mit EditionF  in einem Satz exemplarisch anschaulich gemacht, warum das Konzept „Gleichstellung“ meiner Ansicht nach einen falschen symbolischen Ansatz fährt.“

    • Haltungsturnen: Die Härte:

      “Ähnlich ist es bei der – aus meiner Sicht: zutreffenden – Diagnose, dass eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft zunimmt. Allerdings kann doch die Alternative nicht sein, dass wir uns voll doll lieb haben – sondern eher, dass Menschen, die der Entsolidarisierung Vorschub leisten, hart und härter angegangen werden.“

    • Erster Mai: „Tag der unsichtbaren Arbeit“:

      “Der erste Mai als Kampftag der Arbeiterbewegung hat traditionell nur die Erwerbsarbeit im Blick, also die bezahlte Arbeit, jene Arbeit also, die den Status des echten Proletariers ausmacht. (…) Mit dieser Unterscheidung hat auch die Tradition der Arbeiterbewegung dazu beigetragen, die – größtenteils von Frauen geleistete – unbezahlte Care-Arbeit (Pflegen, Putzen, Essenkochen, Kinder versorgen und so weiter) auch in Arbeitskämpfen unsichtbar zu machen.”

    • In the basement with transhumanism’s DIY cyberpunks:

      “Maybe it’s in places like Pittsburgh—in the rust belt of America’s fading industrial past—that transhumanism’s real possibilities are being put to the test.”

  • Der Verschwörungstheorie-Reflex

    tl;dr: Die Nachrichtenlage der letzten Jahre erzeugt kognitive Dissonanz und ist schwer auszuhalten.

    Vorsichtabgrund

    In Oberursel wurden Salafisten hops genommen, die ein wenig zu auffällig Bombenrohstoffe einkaufen gewesen waren. Auf Twitter gehen da natürlich sofort die Verschwörungstheorien los: Es wird unterstellt, die ganze Aktion sei ein Fake einer Psyops-Abteilung deines bevorzugten Nachrichtendienstes gewesen, um mal wieder ein wenig Terror-Angst zu schüren. Etwas gute Presse für die Ermittlungsbehörden passt so gesehen auch gut in die aktuelle Nachrichtenlage rund um Vorratsdatenspeicherung, BND und NSA.

    Das Problem: Wir wissen nichts. Skepsis ist sicherlich angebracht, aber wir brauchen schon Beweise oder starke Hinweise. Eine Korrelation – nämlich dass Oberursel passiert, während die Ermittlungsbehörden von Skandal zu Skandal hecheln – ist eben nur das: eine Korrelation und weit entfernt von jedem Beweis. Dass wirklich gerade irgendwo in Deutschland Salafisten Waffen horten und Bomben basteln, ist nunmal mindestens genauso wahrscheinlich. Wer ohne weitere Anhaltspunkte skeptisch gegenüber der These ist, dass da Terroristen am Werk waren, muss genauso skeptisch gegenüber der These sein, dass da Geheimdienste am Werk waren. Sonst hat die ganze Skepsis nämlich keinen Sinn.

    Und hier bekommen wir ein Problem. Es gibt zahllose echte Affairen, die das Vertrauen in offizielle Stellen nachhaltig erschüttern. Die Überwachung durch die NSA oder der ganze Skandalkomplex rund um den NSU sind nur zwei hervorstechende Beispiele. Auf der anderen Seite stehen die Quatschtheorien, bei denen stimmt, was die offiziellen Stellen und die Medien sagen: Chemtrails, Impfgegnertum, Reichsbürger usw. Rastet das Denken erst einmal in die Spur des völligen Misstrauens ein, wird es schwer für uns, ein neues Ereignis richtig einzuordnen. Wir sind plötzlich bereit, den letzten Blödsinn zu glauben.

    Beide Gruppen auseinander zu halten und je nach Lage ständig neu zu entscheiden, ob ich jetzt mit einer vertrauensvollen oder mit einer misstrauischen Einstellung an ein Thema herangehe, ist ausgesprochen schwierig. Ich glaube sogar, dass es zu dem Gefühl führen kann, zwei inkompatible Weltbilder gleichhzeitig mit sich herumtragen zu sollen. Die Folge ist kognitive Dissonanz, die bekanntlich zu psychischen Problemen führt, wenn sie längere Zeit ausgehalten werden muss. Da wundert mich rund um Pegida & Co. langsam auch nicht mehr, warum einige Menschen so … äh, „seltsam“ drauf sind.

    Die Lösung kann nur sein, immer und unter allen Umständen bereit zu sein, sein Weltbild oder teile davon zu revidieren. Niemals etwas als endgültige Wahrheit hinzunehmen. Immer offen dafür zu sein, dass eine Sache vollständig anders ist, als man sie zunächst beurteilt hat. Egal ob es um Politik, Religion, Arbeit oder – besonders – um die eigenen Mitmenschen geht.

    Das ist sauschwer. Ich bin schon froh, wenn mir das wenigstens ab und zu gelingt.