Schlagwort: Postprivacy


  • Datenschutz ist ein seltsames Konzept

    tl;dr: Datenschutz als Konzept ist „broken beyond repair“ (oder: Warum ich schon länger kein Pirat mehr bin)

    datenschutz

    Ich weiß, Postprivacy ist seit Snowden out. Trotzdem beobachte ich das Treiben der Datenschützer (längst nicht nur der Piratenpartei) mit Befremden. Je länger ich über Datenschutz im Allgemeinen und den deutschen Datenschutz im Speziellen nachdenke, desto weniger verstehe ich das Denken dahinter.

    Datenschutzgesetze sollen vor Diskriminierung schützen. Das tun sie leidlich, aber um den Preis, dass sie auch Verbrechen schützen. Privatsphäre bedeutet halt nicht nur, in Ruhe zu onanieren, sondern auch unsichtbare Gewalt in Familien. Diskriminierung mit Datenschutz zu bekämpfen wird absurd, sobald man darüber nachdenkt, wieviel Diskriminierung aufgrund nicht schützbarer Daten passiert. Wir können weder unser Geschlecht verheimlichen, noch unsere Hautfarbe. Allein dadurch, dass wir vor die Tür gehen, geben wir permanent Daten von uns Preis. Die jüdische Gemeinde verschickt ihr Magazin „Jüdisches Berlin“ jetzt in neutralen Umschlägen, aus Angst vor Übergriffen. Ist das wirklich die Antwort, die wir den Juden in Deutschland anbieten wollen, oder wollen wir lieber Antisemitismus bekämpfen? Datenschutz konsequent zu Ende gedacht, würde bedeuten, dass wir alle eine Burka tragen müssten – nicht nur die Frauen.

    Vollkommen desillusionierend finde ich, dass sehr viele (ich betone: viele, längst nicht alle!) Datenschützer aus der Nerd-Szene sich nur für sich selbst zu interessieren scheinen. Sexismus, Rassismus und diverse andere Formen der Diskriminierung sind für sie kein Thema. Wer laut „Datenschutz“ schreit, ohne gleichzeitig gegen Diskriminierung vorzugehen, will in Wirklichkeit nur seinen eigenen, privaten Datenschutz zur Verteidigung meist männlicher, weißer Privilegien. Sehr viele dieser Nerd-Datenschützer agieren sogar selbst diskriminierend, wenn sie trollend im Netz unterwegs sind, und Datenschutz bietet ihnen dafür einen Schutzraum.

    Und dann ist da noch der Kult um die „freiheitlich demokratische Grundordnung“, im Rahmen dessen Menschen schonmal das Grundgesetz heiraten. Als ob das Grundgesetz in Stein gemeißelt wäre. Es enthält in der heutigen Form eine menschenfeindliche Asylgesetzgebung. Das Grundgesetz verhindert weder einen Striptease im Jobcenter noch das Ehegattensplitting und andere Formen sexistischer Diskriminierung. Es verhindert kein Racial Profiling und keine Hausdurchsuchung wegen einer harmlosen Hanfpflanze auf dem Balkon. Die FDGO verhindert sehr vieles nicht, wogegen Datenschutz schützen soll. Ich bin kein Jurist und kann nicht beurteilen, wieviele Gesetze grundgesetzwidrig sind und an welchen Stellen das Grundgesetz selbst repariert werden müsste. Klar ist nur: Zum Götzen sollte man es nicht machen.

    Aus dem Grundgesetz abgeleitet ist die „informationelle Selbstbestimmung“. Auch dieser Gedanke ist längst ad absurdum geführt, es sei denn, wir schalten das Internet ab. Sie setzt voraus, dass wir überblicken und kontrollieren könnten, wer wann welche Daten über uns gewinnt. Das ist ein absolut hoffnungsloses Unterfangen. Michael Seemann hat dazu das Wort „Kontrollverlust“ geprägt und in seinem Buch „Das neue Spiel“ dargelegt, wie wir damit umgehen könnten. Im Rückblick muss ich aber sagen: So etwas wie „informationelle Selbstbestimmung“ definieren zu wollen, zeugt selbst für die kaum digitalisierten 80er Jahre von rührender Ahnungslosigkeit. Selbst analog erzeugen wir ständig Informationen über uns und haben wenig Einfluss darauf, was unsere Mitmenschen aus diesen Informationen machen – sprich, wie sie über uns denken oder ob sie uns sogar diskriminieren.

    Dementsprechend katastrophal ist es um den Datenschutz in Deutschland bestellt. Wer irgendwo ein Cookie setzt und dabei Opt-Out-Regeln nicht bis aufs i-Tüpfelchen befolgt und als Totem eine von niemandem je gelesene Datenschutzbelehrung unters Impressum tackert, riskiert Ärger mit Behörden und abmahnenden Konkurrenten, während althergebrachte Printverlage das Listenprivileg genießen und einen schwunghaften Handel mit den Daten ihrer Abonnenten treiben dürfen. Ein Handel übrigens, den weder Google noch Facebook betreiben, weil die Daten für ihr Geschäftsmodell viel zu wertvoll sind. Deutsches Datenschutzrecht verhindert weder, dass Jobcenter-Mitarbeiter Zahnbürsten in „Bedarfsgemeinschaften“ zählen (was einer Hausdurchsuchung gleichkommt) noch dass „Bild“ Menschen an die Öffentlichkeit zerrt. Wer will in einer Gesellschaft leben, in der Datenschutzgesetze dermaßen streng und umfangreich sind, dass keine Information mehr durchtröpfelt, aufgrund derer diskriminiert werden könnte? Leben in der Einzelzelle? Das Sammeln und Auswerten von Daten verhilft uns zu Erkenntnisgewinn. Dass jemand Daten nutzt, um anderen zu schaden, ist nicht die Schuld der Daten sondern dieses Jemand. Datenschutz ist die Anwendung eines Konzeptes aus dem vergangenen Jahrhundert auf eine Welt, zu der er nicht mehr passt und kann nicht die politische Stoßrichtung sein. Sondern die Bekämpfung von Diskriminierung. Nicht Daten schützen – Menschen schützen!

    P.S.: Und die NSA? Die NSA, GCHQ und natürlich auch der BND sind ein Problem für sich. Kein Datenschutzgesetz dieser Welt wird sie davon abhalten, das zu tun, was sie tun. Übrigens auch kein Antidiskriminierungsgesetz. Ich weiß nicht, was wir dagegen tun können, ich weiß nur: Die aktuellen Datenschutzdebatten der letzten Jahre helfen hier kein Stück weiter.

     


  • Icke inna brand eins

    tl;dr: In der neuen „brand eins“ ist ein Portrait über mich. Kauft das Heft mal, aber nicht wegen mir.

    brandeins

    Heute liegt die neue „brand eins“ in den Kiosken. Darin gibt es schöne Portraits über Christoph Kappes, Meike Lobo, Sylvia Oberstein, Patricia Cammarata und mich. Deswegen muss keiner das Heft groß kaufen – lest lieber die gleich die betreffenden Blogs! Die Portraits stehen unter der Überschrift „Bloggen weil man muss“ und sind Teil des Großthemas Privatsphäre. Den Anfang macht ein sehr guter Artikel über das Spannungsfeld zwischen Postprivacy und und dem Wunsch nach Privatsphäre. Es folgt die unvermeidliche Anleitung  für Aluhüte, sich im Netz zu schützen. Ich halte das in der Form für zu aufwändig und einen Kampf gegen Windmühlen, aber der eine oder andere Tipp ist sicher nützlich, schließlich denke ich, dass wir zwar anerkennen sollten, dass das Internet „open by design“ ist, was uns aber nicht daran hindern sollte, mit technischen Hilfsmitteln wie Verschlüsselung Refugien der Vertraulichkeit zu schaffen, wo wir sie benötigen.

    Wirklich gut ist auch der Artikel über Big Data, der das Narrativ vom bösen Algorithmus mal vom Kopf auf die Füße stellte und klarstellt, dass das statistische Bearbeiten riesiger Datenberge durch gr0ße Rechner vor allem dem (wissenschaftlichen) Erkenntnisgewinn dient. Hier hätte ich mir noch die Aussage gewünscht, dass die verwendeten Algorithmen meist nur statistische Wahrscheinlichkeiten und Korrelationen produzieren, die wir nicht mit Tatsachen verwechseln dürfen. Erst wenn man letzteres tut, landet man gedanklich beim dystopischen „Nr. 2“ à la Schirrmacher. Bedenklich auch immer wieder die Haltung, Daten ausschließlich als Gefahr (zum Beispiel fürs Verhältnis zum Arbeitgeber oder in Liebesbeziehungen) zu sehen. Dabei wäre es viel gesünder, wenn wir erkennen, dass wir alle mal auf einer Feier besoffen sind oder fremdgehen. Für viele Menschen eher kein Rezept für hier und heute, solange sie ökonomischen und gesellschaftlichen Zwängen unterworfensind, aber eine nachdenkenswerte Vision für die sehr viel mehr spricht, als der 1984- und volkszählungssozialisierte Mensch zunächst denken würde.

    Dennoch ist das ganze gar nicht mal so unausgewogen: Der laufende Diskurs, jedenfalls, wird im Heft schön zusammengefasst.

    Update: Das Bloggerportrait gibt es jetzt auch online.


  • Privatsphäre im Internet: Wie auf dem Dorf

    Wer viel im Internet unterwegs ist, weiß: E-Mails sind nicht geschützt, ihr Versand gleicht dem einer Postkarte, die von jedem mitgelesen werden kann, der auf dem Weg vom Sender zum Empfänger zufällig einen Blick darauf wirft. Die Struktur des Internet war von Anfang an auf Offenheit ausgelegt. Private Räume kann man darin schaffen, aber man muss das selbst tun und sie entsprechend sichern. Viele Firmen machen das schon lange, sie verwenden etwa abgeschottete Intranets und gestatten von außen nur einen gesicherten Zugang via Virtual Private Network.

    Weiterlesen bei Jungle World


  • Mail verschlüsseln: Hier ist mein Key

    tl;dr: Seine E-Mail nicht zu verschlüsseln, ist grob fahrlässig, schon ganz ohne Prism. Hier ist mein GPG Public Key.

    keys

    GPG nutze ich schon lange. Vor Jahren habe ich meine Kollegen auf der Cebit damit genervt, doch bitte den Heise-Stand aufzusuchen, um sich Keys erzeugen zu lassen, um einen Keyserver aufzusetzen. Wirklich durchgesetzt hat es sich nie: GPG habe ich immer nur eingesetzt, wenn es um den Austausch vertraulicher Information ging, und selbst da selten durchgängig, weil die wenigsten meiner Gesprächspartner ihre Mails verschlüsseln, was gerade auch im geschäftlichen Verkehr erschreckend naiv erscheint. Das ist reine Bequemlichkeit, denn wenn es erstmal funktioniert, dann auch unproblematisch.

    Dabei brauchen wir gar nicht die ganz große Kanone „Prism“ aufzufahren. Gerade auch im geschäftlichen Bereich reicht es, dass ein Mitarbeiter der beteiligten Firmen mit Zugriff auf die Mailserver Daten abfischt – zu welchem Zweck auch immer. Unverschlüsselte E-Mails gleichen immer schon einer Postkarte. Jeder, dessen Weg sie zufällig kreuzt, kann einen Blick drauf werfen. Auf Twitter schrieb ich gerade, nicht zu verschlüsseln sei damit vergleichbar, seine Haustür nicht abzuschließen, und bekam eine Reihe seltsamer Antworten. Dass es darum ginge, in einer Welt leben zu können, in der man seine Haustür nicht abzuschließen brauche. Dass immer noch diejenigen die Verbrecher seien, die einbrechen, und nicht diejenigen, bei denen eingebrochen wird. Ja bestreitet das denn jemand? Einer hat meinen Tweet sogar mit der Aussage verglichen, dass Frauen an Vergewaltigungen selbst schuld seien, wenn sie zu leicht bekleidet sind. Ja geht’s noch?

    Es geht beim Verschlüsseln nicht darum, vor Prism zu resignieren (auch wenn uns wohl derzeit nicht viel anderes übrig bleibt), sondern darum, Privatsphäre in einem öffentlichen Raum zu schaffen. Dass das Internet ein öffentlicher Raum ist, scheinen viele immer noch nicht so recht begriffen zu haben. Wir hinterlassen permanent Datenspuren, die an verschiedenen Stellen zusammenlaufen und aggregiert sehr vieles über uns verraten. Daran können wir nichts ändern, es sei denn, wir verzichten auf die Segnungen des Internet. Das Internet ist jedoch eine einzige, riesige Datenkopiermaschine, eine Anti-Privatsphäre-Maschine. Das beginnt schon damit, dass wir Daten schriftlich hinterlassen, die uns später unter die Nase gerieben werden können, auch wenn wir sie auf Facebook als vermeintlich „privat“ posten. Es führt also kein Weg drum herum, sich im Internet wie in einem öffentlichen Raum zu verhalten. Ich finde es auch nicht besonders problematisch: Stichwort Post Privacy. Ich glaube immer noch, dass eine Gesellschaft, die es lernt, mit offenen Daten umzugehen, eine bessere wird, weil sie zur Toleranz gezwungen ist.

    Trotzdem brauchen wir Privatsphäre. Bestimmte Dinge verraten wir eben nicht so gerne der Öffentlichkeit, und das aus ganz individuellen Gründen und Ängsten heraus. Der Postprivacy-Ansatz ist da durchaus richtig: Dass wir Angst davor haben, etwas öffentlich zu machen, ist ein Indikator für einen gesellschaftlichen Missstand, der diskutiert und behoben werden muss. Allein: Der „bessere Mensch“ erzieht sich nicht von heute auf morgen und wahrscheinlich nie. Das zeigt sich schon anhand von Daten, die man gar nicht effekt geheim halten kann, zum Beispiel Geschlecht und Hautfarbe. #Aufschrei ist nur ein Beispiel. Selbstverständlich gibt es Information, die besser vertraulich behandelt werden sollte und vor allem: Wir müssen respektieren, wenn unser Gegenüber eine Information als vertraulich ansieht, selbst wenn wir das – ganz post privacy – nicht so sehen.

    Nicht jeder kann in den Dingen, die ihm oder ihr peinlich sind, immer Avantgarde sein. Das übersteigt unsere Kräfte. Aber auch Firmen, Behörden und Organisationen, die mit vertraulicher Information umgehen müssen, benötigen vertrauliche Kommunikation über das Internet: Sie operieren seit über 10 Jahren in abgetrennten und geschützten Intranets. Wer von außen rein will, benutzt einen VPN-Tunnel. In der Piratenpartei war ich sowieso gezwungen, meine Mails zu verschlüsseln, als ich mit Mitgliederdaten arbeiten musste, die in ebenso verschlüsselten Containern auf meinem Rechner liegen. Niemand wird bestreiten, dass diese Daten geschützt werden sollten.

    Wir müssen uns also selber darum kümmern, im öffentlichen Raum Internet eine künstliche Privatsphäre nach unseren Bedürfnissen zu schaffen. Zum Beispiel können wir vertrauliche Mails verschlüsseln. Dann kommt die NSA zwar immer noch an die Meta-Daten („Wem habe ich wann gemailt?“), aber es geht hier auch nicht so sehr um Prism, Vorratsdatenspeicherung & Co., sondern um den Austausch privater Daten.  GPG nutze ich schon lange und es hat den Vorteil, dass sich kein Anbieter wie z.B. Microsoft  oder DE-Mail einklinken kann, wenn wir uns selber um die Verschlüsselung kümmern. Alles was du brauchst, ist Verschlüsselungssoftware und ein Private Key und einen Public Key. Mit dem öffentlichen Public Key können Leute Mails verschlüsseln, die nur du mit deinem Private Key entschlüsseln kannst. Unter Mac OS X ist es heute geradezu blödsinnig einfach, mit GPG Mail loszulegen.

    Versäumt habe ich bisher, meinen Public Key zu veröffentlichen. Das sei hiermit nachgeholt. Und wer das alles für Raketentechnik hält, findet im Netz zuhauf Tutorials für sein Lieblingsbetriebssystem oder besucht eine der vielen Kryptopartys. 100%ige Sicherheit gibt es zwar nie, aber wir sollten wenigstens so emanzipiert mit dem Internet umgehen können, dass wir in der Lage sind, unsere virtuelle Haustür zu verschließen. (Der nächste Schritt wird sein, endlich Owncloud zu installieren und zu nutzen. Habe ich monatelang vor mir hergeschoben. Aus purer Faulheit.)


  • #Prism – ein paar Lebenslügen

    tl;dr: Prism deckt die Lebenslügen unserer Demokratie auf

    prism

    Prism hat mich ratlos gemacht. Ich habe Tage gebraucht, um zu einer Haltung dazu zu finden. Bitte nicht falsch verstehen: Prism, Tempora & Co. sind der größte Internet-Skandal seit Bestehen des Netzes, und wir müssen etwas dagegen tun. Aber was genau, das scheint unklar. Ich glaube, das liegt daran, dass Prism mehrere Lebenslügen aufdeckt. Die müssen wir aufdröseln, um Antworten zu finden

    Lebenslüge 1: Rechtsstaat Deutschland

    Die DDR und die Stasi standen jahrzehntelang als Kontrastfolie da zur leuchtenden westdeutschen Demokratie – dabei wurde auch von Anfang an in der ehemaligen BRD kräftig überwacht. Und daran hat sich seit 1989 nichts geändert. Überwachungsskandale gibt es immer wieder, Rudi Dutschke oder Anne Roth sind nur Beispiele unter vielen. Berufsverbote und Rasterfahndung (durch die meines Wissens genau ein RAF-Terrorist aufgedeckt wurde) scheinen Beispiele aus dem letzten Jahrhundert zu sein, aber es hat sich wenig geändert. Prism brauchen wir gar nicht, um uns zu empören, da reichen Fälle wie die illegale Funkzellenabfrage in Sachsen oder die verschiedenen Versuche, einen Staatstrojaner an den Start zu bringen oder oder oder.

    Lebenslüge 2: Freund Amerika

    Die USA sind eine befreundete Nation. Das hindert sie aber nicht daran, den Internet-Traffic von Freund und Feind im ganz großen Stil zu überwachen – bis hin zu Botschaften, Institutionen und Regierungen. Dieser feindliche Akt eines Freundes ist irritierend, aber viel irritierender ist, dass die deutsche Regierung seltsam ruhig bleibt. Das liegt vor allem daran, dass sie selbst von der Überwachung profitiert, ohne sich die Finger schmutzig zu machen – die NSA arbeitet eng mit dem BND zusammen. Der „feindliche Akt“ ist also eigentlich keiner, sondern eher ein stilles Agreement unter Verbündeten. Dabei ist aus dem Musterland der Demokratie längst auch ein Musterland der Überwachung geworden. Prism mag zwar auf das Ausland gerichtet sein, aber die Homeland-Security arbeitet gezielt mit Denunziation und der komplette Briefverkehrs in den USA wird überwacht.

    Lebenslüge 3: Demokratie

    Merkel schweigt, Kanzleramtschef Pofalla, der für die Kontrolle der Geheimdienste zuständig ist, ebenfalls, und Innenminister Friedrich zeigt sich gewohnt dummdreist. Leider ist es nicht damit getan, im Herbst einfach die Regierung abzuwählen, schließlich wird in der SPD ähnlich herumgeeiert. Spitzenpolitiker aller im Bundestag vertretenen Parteien (außer der Linkspartei, auf deren Vergangenheit wir hier aber nicht näher eingehen müssen) tun überrascht. Dabei ist die derzeitige Lage einfach nichts neues. Bereits 1989 wussten wir, wie intensiv die NSA uns überwacht. Bereits seit Adenauer hatten die Besatzungsmächte in Deutschland weitgehend freie Hand. Überwachung ist ein kontinuierliches Problem der letzten Jahrzehnte. Es ist also nicht so, dass wir gerade eine „böse Regierung“ haben. Man kann natürlich im Herbst die Piratenpartei wählen, damit es in Fragen Überwachung wenigstens Opposition im Bundestag gibt. Das zu bohrende Brett ist aber – eben auch wegen der USA – sehr, sehr dick und kann nicht mal eben weggewählt werden. Heute ist Snowden eine heiße KartoffelGauck nennt ihn Verräter und niemand will etwas gewusst haben – das fühlt sich für viele an wie damals im Osten. So etwas wie „gute und böse Staaten“ gibt es nicht, alle Regierungen vertreten mehr oder weniger skrupellos ihre Interessen.

    Lebenslüge 4: Im Internet gibt es Privatsphäre

    Der internet-affine Mensch wusste schon immer: E-Mails sind nicht geschützt, ihr Versand entspricht dem einer offenen Postkarte, die von jedem mitgelesen werden kann, der sich in den Versandweg einklinkt. Es galt schon immer: Wer Vertrauliches mitzuteilen hat, muss ein sicheres Medium wählen, also sich im Park treffen oder halt seine E-Mail verschlüsseln. Verschlüsselung als technische Lösung anzusehen, die ein soziales Problem nicht beheben könne, ist zu kurz gedacht: Wer von uns lässt denn permanent seine Haustür offen stehen, weil Einbruch und Diebstahl schließlich vor allem ein soziales Problem sind? Die Struktur des Internet ist eine offene. Private Räume kann man dort schaffen, aber man muss sie entsprechend sichern. Und darf offenbar nicht darauf vertrauen, dass Anbieter wie Facebook das zuverlässig tun. Das heißt nicht, dass man Facebook & Co nicht mehr benutzen kann. Das bedeutet nur, dass man Cloud-Dienste und Social-Media-Netzwerke immer in dem Bewusstsein benutzen muss, sich hier nicht mehr in seiner Privatsphäre zu bewegen. Der Kontrollverlust über die eigenen Daten ist nicht aufzuhalten – informationelle Selbstbestimmung verkommt angesichts des Internet vom Grundrecht zur Lebenslüge. Wie damals im Dorf. Da konnten wir auch nicht verhindern, dass unsere Nachbarn wissen, was wir so treiben. Tatsächlich ist hier der Ansatz der Postprivacy sogar sehr charmant: Wenn immer mehr (auch private oder gar intime) Daten frei verfügbar sind, verlieren diejenigen ihre Macht, die Datensilos bauen und Datenmonopole inne haben.

    Lebenslüge 5: Datenschutz

    Die deutschen Datenschutzgesetze sind broken beyond repair. Wir kämpfen mit Abmahungen, stellen Gutachten gegen Gutachten, wenn es um die Nutzung von Liquid Feedback geht, und hauen uns die Köppe ein, ob das Opt-In-Häkchen bei Newsletter-Anmeldungen richtig gesetzt ist oder ob ein Anbieter für seine Dienstleistungen ein permantes Cookie setzen darf. Filesharer bekommen regelmäßig Abmahnungen, aber es ist in Deutschland fast unmöglich, gegen Trolle oder Stalker vorzugehen, die dir gelegentlich das Leben zur Hölle machen können. Datenschutz funktioniert aber nicht denen gegenüber, die wirklich Macht über uns haben, die uns wirklich wehtun können. Das ist vor allem der Staat. Das deutsche Datenschutzrecht muss von Grund auf erneuert werden – weg vom Schutz von Daten hin zum Schutz von Menschen. Wir brauchen eine Stärkung der Grundrechte, bessere Gesetze gegen Diskriminerung, besseren Minderheitenschutz.

    Hatten die Aluhüte die ganze Zeit recht?

    Eigentlich ist das, was NSA mitschneidet, sowieso öffentlich einsehbarer Datenverkehr, der im Prinzip von jedem zumindest partitiell abgegriffen werden kann. Wenn es die USA nicht macht, macht es halt ein „Schurkenstaat“. Irgendwer findet sich immer. Die Ungeheuerlichkeit bei PRISM liegt von allem in er Geheimhaltung und Unkontrollierbarkeit der Datensammelei und der Tatsache, dass ein im Zweifel skrupelloser Machtapparat diese Daten monopolartig verwendet. Prism zeigt nicht, dass das Internet kaputt ist – anhand von Prism zeigt das Internet einmal mehr, wie kaputt unsere Gesellschaft und Demokratie ist und welche Lebenslügen wir mit uns herumtragen.


  • Kompromat

    Heute ist nicht nur Data Protection Day sondern als Antwort auch gleichzeitig Open in Public Day. Sinn der Übung: Statt datenschutzmäßig zu versuchen, die Zahnpasta wieder in die Tube zu drücken, wird ein peinliches Foto aus der eigenen Vergangenheit veröffentlicht, um zu zeigen, dass wir alle Fehler haben, mal besoffen waren und der Welt sagen dürfen: Get used to it!

    Auch wenn ich Datenschutz weiterhin wichtig finde – jedenfalls solange keine Datengerechtigkeit hergestellt ist – sympathisiere ich ja sehr mit der Grundidee, uns einfach mal gegenseitig einen guten Mann sein zu lassen. Toleranz und Offenheit sind ja nicht erst in der Postprivacy erstrebenswerte Ideale. Und so veröffentlicht Kristian Köhntopp ein Nacktbild von sich und Michael Seemann Bildwerke, die seinen Alkoholkonsum dokumentieren.

    Aber jetzt mal ehrlich: Nackt rumsitzen und besoffen sein? Das versteht ihr unter mutigen und (de)kompromittierenden Tabubrüchen? Ihr Memmen, das kann doch jeder! Ich zeige euch jetzt mal ein wirklich peinliches Foto von mir:


  • Der Kontrollverlust über die Filtersouveränität

    Als ich diesen Tweet von @huxi las, kam mir heute in den Sinn, dass ein Retweet auf Twitter meine Filtersouveränität unterläuft. Michael Seemann ist ja der Meinung, dass es nicht schlimm sei, wenn ich etwas zu lesen bekomme, das ich lieber ausgefiltert hätte, weil ich ja denjenigen, der mir das gesendet hat, auch entfolgen könne. Irgendwas stört mich an der Argumentation.

    Von der Query her gedacht stimmt es natürlich, dass ich meine Filtersouveränität ausübe – aber: Ich schreibe die Query nicht, sondern ich bewege mich in sozialen Netzwerken, wo ich über das Friend- oder Follower-Prinzip filtere. Ich konsumiere Medien, indem ich filtere, welche Zeitung und welchen Fernsehsender ich mir wann ansehe. Ich kann zwar die Äußerungen bestimmter Medien oder Personen ausblenden, muss aber immer damit leben, dass über die Kanäle, die ich nicht ausgefiltert habe, doch unerwünschte Information zu mir dringt.

    Mit jedem Stück Information, das ich nicht vollständig selber beschaffe (recherchiere, per Query höchstpersönlich in einer Datenbank abfrage), sondern mir über Medien (klassische Medien, Social Media oder einfach nur das Gespräch beim Bier), gebe ich ein Stück meiner Filtersouveränität an meine Umwelt ab. Und da mein ganzes Kommunikationsverhalten in den aller seltensten Fällen das naturwissenschaftliche Nachmessen von Gegebenenheieten sondern der Informationsaustausch mit meinen Mitmenschen ist, entpuppt sich die Filtersouveränität als Illusion. Nichteinmal über das Ergebnis der Query einer Google-Suche bestimme ich frei – sondern Google durch seine wertenden und gewichtenden Algorithmen. Oder hat jemand schon mal SQL-Statements an die Suchmaschine abgesetzt?

    PostPrivacy hat nicht nur, aber zu großen Teilen etwas mit dem Social Web zu tun. PostPrivacy ist nicht nur das Google-Cookie sondern eben auch Facebook, Twitter und die Nachlesbarkeit unseres Tuns. Der Kontrollverlust findet nicht unbedingt gegenüber Firmen oder Staaten statt – dort könnte man per Datenschutzgesetz die Kontrolle zumindest teilweise zurückerlangen oder bewahren, indem man z.B. die Vorratsdatenspeicherung untersagt. Dort, wo der Staat mehr Daten sammelt als er gesunderweise sollte, wird es politisch – und diese Kontrolle ist auch politisch zurück zu erlangen wie bei jeder anderen Form der Machtausübung auch.

    Der eigentliche Kontrollverlust findet zwischen den Menschen untereinander statt. (Im Grunde gab es ihn schon immer – geschiedene Eheleute können sich eben nicht darauf verlassen, ob der oder die Ex dem Finanzamt gegenüber weiterhin diskret bleibt.) Dass in totaler PostPrivacy jeder im Grunde alles über jeden nachlesen könnte, macht ja erst eine neue Ethik nötig, die die Filtersouveränität erzwingt. Es besteht aber keine Kontrolle mehr über die eigenen Daten sondern auch keine Kontrolle über die Filter, solange es sich um soziale oder mediale Filter handelt. Der Kontrollverlust ist also total, wenn wir anfangen, nach der Ethik des „radikalen Rechts des Anderen“ uns sämtlich voreinander zu entblößen.

    Andererseits ist der Begriff der Filtersouveränität auch auch ein Oxymoron. Um zu bestimmen, was ich herausfiltern will, muss ich nämlich Kenntnis von dem erlangt haben, was ich hinausfiltern will, also schon einmal ungefiltert empfangen haben. Um Realitätsverlust zu vermeiden, bin ich gezwungen, meine Filter immer neu zu justieren, was bedeutet, auch immer neu ungefilterte Information aufzunehmen. Mein Filter ist nie perfekt und benötigt zur Annäherung an Perfektion ungefilterte Information. Die Begriffe „Filtern“ und „Souveränität“ ergeben nur Sinn, wenn ich anderen die Daten vorfiltern, also Zensur ausüben will. Filtersouveränität im Seemanschen Sinne ist also paradox. Logische Filtersouveräntit wäre das Recht meine Privatsphäre frei zu definieren und zu entscheiden, welche Informationen aus ihr herausdringen können.

    Das bedeutet dann auch, dass Zensur nichts anderes ist als ein weiterer Filter, der den Informationsfluss hemmt. Wer diesen Filter setzt, ist nebensächlich, da das Ausüben der Seemannschen Filtersouveränität auch nichts anderes als Selbstzensur ist. Zensur stört keine wie auch immer geartete Filtersouveränität sondern den Informationsübertragung als solche. Und die besteht jenseits jedes Filters aus Sender und Empfänger. Wenn der Sender nicht senden will, hat der Empfänger Pech gehabt. Wenn es ethisch verwerflich sein soll, nicht senden zu wollen, dann müsste die Emfpangsverweigerung, also das Filtern ebenfalls ethisch verwerflich sein.

    Allein die Tatsache, dass es so etwas wie ein Einschreiben bei der Papierpost gibt, die sicherstellt, dass beispielsweise eine Vorladung vor Gericht auch wirklich ankommt, ist ein Beispiel dafür, wie sinnlos und illusionär der Wunsch nach Filtersouveränität ist. Eher müssen wir uns fragen, in welchen Fällen der Sender das Senden und der Empfänger das Empfangen verweigern dürfen soll. Das ist die Frage nach der Datengerechtigkeit.


  • Postprivacy und Gruppendruck: Ein Experiment

    Die „Bild“ öffentlich gut finden ist in gewissen Kreisen nicht besonders gerne gesehen. Als ich einen frauenfeindlichen und sexistischen und last not least dummen Bild-Kommentar nochmal auf Bild.de nachlesen wollte, konnte ich diesen selbst zwar nicht finden, habe dafür aber eine andere Entdeckung gemacht: Ein Facebook-Kasten zeigt mir, wer in meinem Freundeskreis alles mal bei Bild „gefällt mir“ geklickt hat – diese Zeitung also „mag“ oder neudeutsch liked.

    Schnell entwickelte sich auf Facebook und Twitter eine kleine Diskussion: Entfolgen und entfreunden oder nicht? Ich habe niemanden meiner drei Bild-mögenden „Friends“ entfreundet – es würde bedeuten, eine Person anhand eines einzigen und vermutlich irrelevant Kriteriums abzulehnen – schließlich kenne ich nicht die Bewegründe, die jemand hat, Bild zu „liken“. Ein Journalist, Blogger und Socialmediat könnte zum Beispiel einfach nur die Facebook-Aktivitäten des Boulevard-Blattes verfolgen wollen.

    Michael Seeman, der meinte, langsam verstünde ich die Filtersouveränität,  und scheint mehr oder weniger ernsthaft der Meinung zu sein, ein relevantes Filterkriterium gefunden zu haben, anhand dessen er den Kreis seiner Informationsquellen sortieren könne. Sieht man in Social Media tatsächlich vor allem die Funktion der Individuen als Nachrichtentransporteure, mag diese technokratische wie asoziale Sicht angemessen sein. Soll das „Social Web“ aber nicht nur technisch sondern auch menschlich sozial sein, haben wir hier ein sehr gutes Beispiel dafür, anhand welcher Kriterien man nicht filtern sollte, weil man gar nicht in der Lage ist, die Filterkriterien korrekt zu interpretieren.

    Außerdem: Filtern wir individuell anhand von Meinungen, gefährden wir auf subtile Art die Meinungsfreiheit überall dort, wo unpopuläre Minderheitsmeinungen vertreten werden. Wir blenden Menschen aus unserer Do-It-Yourself-Realtität aus. Genauso wie ich Homophobe, religiöse Fundamentalisten und Nazis filtern kann, können diese mich filtern. Alle schmoren in ihrem eigenen Realitätssaft. Wenn etwas in der Postprivacy-Gesellschaft nicht mehr stattfindet, dann ist es echter Dialog über Grenzen hinweg.

    Halb belustigend, halb erschreckend dann der Wettbewerb, der auf Twitter stattfand: Etliche Follower überboten sich darin, wer am wenigstens Bild-likende Friends auf Facebook hat. Einige haben wohl auch die eine oder andere Person aufgrund ihres öffentlichen Statements entfreundet. Das ganze ist glücklicherweise nicht eskaliert, bietet aber einen Vorgeschmack auf die Hexenjagden, die uns Postprivacy bescheren wird, und dem Gruppendruck, dem wir uns zu unterwerfen haben, wenn wir nicht auch einfach weggefiltert werden wollen. Jeder seinem nächsten ein kleiner Big Brother.

    Ich halte die Friede-Freude-Eierkuchen-Utopie, die im Zuge von Postprivacy postuliert wird, gelinde gesagt für naiv. Die Menschen werden sich so schnell nicht ändern, bloß weil es sinnvoll sein könnte, künftig zu ignorieren, was ihnen aneinander nicht passt. Ja, die Digialisierung ist nicht mehr aufzuhalten. Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch kulturelle Regeln und Gesetze finden könnten – also auch bestimmte Querys als Verbrechen zu definieren und zu verbieten, sobald diese dem abgefragten Individuum Gewalt antun. Die ewige Existenz von Mord und Diebstahl ist kein Grund, die entsprechenden Gesetztesverbote abzuschaffen – genauso ist das Aufkommen von Postprivacy kein Argument, auf Datenschutz zu verzichten, sondern im Gegenteil Anlass, überhaupt angemessene Datenschutzgesetze zu schaffen und durchzusetzen.

    Es wird eine politische Frage sein, hier zwischen den Wünschen derjenigen, die Daten abfragen wollen und derjenigen, die davon betroffen sind, auszugleichen. Eine Frage der Datengerechtigkeit. Ich möchte gerne der Postprivacy eine New Privacy gegenüberstellen.


  • Postprivacy my ass – von der Utopie des perfekten Filters

    Postprivacy beschreibt das Ende der Privatsphäre im Zeitalter der totalen Vernetzung. Die Kontrollverlust-Debatte dreht sich darum, was Privatsphäre, Privatheit und Öffentlichkeit eigentlich bedeuten und wie sie in eine digitale Welt hinüber zu retten sind, was man auch den konservativen Ansatz des Datenschutzes nennen könnte – oder aber ob Datenschutz vielleicht völlig obsolet ist in einer Welt umfassender Datensammlungen, auf die ubiquitär und in Echtzeit zugegriffen werden kann – der progressive Ansatz, der nach Michael Seemann in eine neue Ethik gipfelt, welche das Zurückhalten von Daten als unmoralisch begreift und von ihm selbst „radikal“ genannt wird. Nicht mehr der Sender soll entscheiden, was er von sich preisgibt, sondern der Empfänger die absolute Souveränität darüber erlangen, wie er filtert. Die Verweigerung von Information sei deshalb ethisch verwerflich, da das Recht des Empfängers, auf eigene Weise zu filtern, eingeschränkt würde. Unbeantwortet bleibt die Frage, warum der Empfänger ein solches Recht überhaupt haben sollte. Die Informations- und Meinungsfreiheit gibt ein solches Recht nicht her, wie ich noch darlegen werde.

    Radikales Öffentlichmachen von bisher Privatem – im Grunde also das Konzept des Outings – zwingt die Öffentlichkeit geradezu, sich mit unangenehmen Dingen auseinander zu setzen und diese auf irgend eine Weise zu akzeptieren und in ihre Kultur einzubauen – oder aber zu bekämpfen. Das Coming-Out in der Schwulenbewegung wird immer wieder als Paradebeispiel dafür angeführt, dass es nicht darauf ankomme, Information zu unterdrücken und Privatsphäre irrelevant sei, sondern nur darauf, wie die Information gefiltert und verwertet wird, um die Gesellschaft zu verändern.

    Das ist eine ziemlich Steile These: Ja, wir haben 30 Jahre nach dem Christopher Street Day ein Klima, in dem Homosexuelle zumindest in westlichen Ländern ihre Orientierung einigermaßen frei von Diskriminierung ausleben können. Wir haben aber auch Fälle von Übergriffen wie derzeit in Osteuropa, wir haben die Todesstrafe auf homosexuelle Handlungen unter Männern in islamischen Ländern, wir haben Selbstmorde von Jugendlichen, weil herauskam, dass sie schwul sind. Homosexualität ist nur ein Beispiel. In den westlichen Ländern gibt es noch immer genügend Tabus, deren Outing uns in der Familie, im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz massiven Ärger machen können und längst nicht immer handelt es sich um Dinge, für die man etwas „böses“ tun muss oder juristisch belangt werden kann.

    Das gilt erst recht, wenn man den globalen Maßstab hinzunimmt. Eine Seltsamkeit der Kontrollverlustdebatte ist, dass nie darüber geredet wird, wie sich ein Tool wie Gaydar bei schwulen iranischen Facebook-Nutzern auswirken würde. Das Internet ist global und kann auch nicht mehr national heruntergebrochen werden, worauf wir in anderem Zusammenhängen wie „Zensursula“ oder der Urheberrechtgsdebatte nicht müde werden hinzuweisen. Für die Kontrollverlustdebatte werden aber noch nicht einmal die Maßstäbe der liberalen westlichen Demokratien zu Grunde gelegt sondern das am Anarchismus schrammende Lebensgefühl der digitalen Boheme in Berlin Mitte.

    Die platte Antwort auf Outing-Risiken aller Art: Das sei eben ein Problem der Gesellschaft, und überhaupt sei das Seemannsche Gedankengebäude rund um die Konsequenzen des Kontrollverlustet ja auch eine Utopie. Utopie ist so ein Wort, bei dem wir ganz genau hinhorchen sollten. Utopien wurden noch nie in der Menschheitsgeschichte verwirklicht und schon gar nicht so, wie sich ihre Vordenker das vorgestellt haben. Wer „Utopie“ sagt, glaubt entweder selber nicht so recht, was er da propagiert, oder ist einer Ideologie verfallen.

    Wenn man Thomas Morus liest, stellt sich immer mehr das Gefühl ein, eine Beschreibung der DDR zu lesen – von der Vereinheitlichung der Wohnverhältnisse (Plattenbau!) bis zur künstlich geschaffenen Insel in Abtrennung zu den Nachbarstaaten (Mauer). Ihm war die Welt zu chaotisch und er wollte mehr Gerechtigkeit aber auch mehr Ordnung schaffen – teils nach höchst subjektiven Kriterien.

    Utopien sind mit dem Ende der mittelalterlichen Scholastik aufgetreten. Utopisch denkende Menschen glauben nicht mehr an jenseitige Verheißungen, sondern kritisieren das Diesseits und machen Verbesserungsvorschläge. Utopien und Visionen sind für einen Diskurs unbedingt nötig. So finde ich die Vision vom bedingungslosen Grundeinkommen dermaßen bestechend, dass ich sie propagiere und unterstütze, auch wenn ich mich wegen der ökonomischen Verwerfungen, die sie auslösen könnte, nicht trauen würde, sie von heute auf morgen einzuführen, wenn ich König von Deutschland wäre.

    Es ist kein Zufall, dass Utopien in Europa mit der Aufklärung aufkamen, als das Christentum die Hoheit über das Denken verlor. Grundlage jedweder Utopie ist das Aufstellen von Regeln, an die sich dann alle zu halten halten haben, auf dass wir alle glücklich werden.  Damit ist sie prinzipiell totalitär – eine Verweigerung wird als Verfehlung angesehen. Der Verfechter einer Utopie darf sich ohne schlechtes Gewissen als etwas besseres fühlen als der Gegner, schließlich steht er wahlweise auf der Seite des Fortschrittes oder der reinen Lehre.

    Der Totalitarismus-Vorwurf wird freilich im Lager der Google-Fanboys und Anbeter des Kontrollverlustes als Beleidigung aufgefasst. Schlecht gefiltert, kann ich da nur sagen, schließlich unterscheidet sich totalitäre Herrschaft von autoritärer dadurch, dass ein neuer Mensch zu formen ist, um eine Ideologie durchzusetzen. Und hier geht es um Herrschaft, legt doch Michael Seemann selbst nahe, dass sich sein Netz-Übermensch durchaus vom Nietzsche-Übermenschen und dessen Herrenmoral herleitet – die aber die Sklavenmoral als Kontext und gesellschaftlichen Resonanzboden benötigt.

    Tatsächlich ist das Filtern von Information über eine Person, ohne dass diese Person an der Filterung mitbestimmen oder die Herausgabe der Information gar verweigern kann, ein Akt der Herrschaft, die voraussetzt, dass Information unter Zwang preiszugeben ist. (Bei freiwilliger Preisgabe wäre es auch sinnlos von „Kontrollverlust“ zu sprechen – dafür müssten wir ein neues Wort einführen, zum Beispiel „Selbstkontrollverlust“ oder einfach „Dummheit“.)

    Es ist sogar gerade so, dass die Meinungs- und Informationsfreiheit Datenschutz geradezu voraussetzt. Daten können sehr wohl absichtlich falsch interpretiert und in infame Zusammenhänge gestellt werden, die dafür sorgt, dass die eigentliche Meinung eines Menschen völlig verzerrt wird. Der Filternde, der ja aufgrund seiner gefilterten Daten ein persönliches Urteil fällt, maßt sich an, besser über eine Person urteilen zu können, als diese Person selbst. Wenn jemand nicht frei darin ist, selber zu entscheiden, welche Informationen er preisgeben möchte und welche nicht, ist ihm damit indirekt die Meinungsfreiheit entzogen: Der Empfänger darf noch meinen, der Sender aber nicht mehr seine Meinung auf eine Weise kundtun, wie er gerne verstanden werden möchte.

    Der Filternde legt sich seine Realität so fest, wie er sie gerne hätte. Irgendewann könnte es dann ein Korrelat von Eigenschaften geben, welches irgendwelche Zukunftsnazis als hassenswert empfinden könnten und auf dessen Basis sie ein paar (Tausend? Millionen?) Menschen umbringen, ohne dass diese Menschen eigentlich wissen, welches abstrakte Eigenschaftenbündel das nun eigentlich begründen soll. Sowas passiert nicht? Auch nicht mit Blick auf die letzten 100, 2000 oder 10000 Jahre Menschheitsgeschichte? Wirklich nicht?