#Prism – ein paar Lebenslügen

tl;dr: Prism deckt die Lebenslügen unserer Demokratie auf

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Prism hat mich ratlos gemacht. Ich habe Tage gebraucht, um zu einer Haltung dazu zu finden. Bitte nicht falsch verstehen: Prism, Tempora & Co. sind der größte Internet-Skandal seit Bestehen des Netzes, und wir müssen etwas dagegen tun. Aber was genau, das scheint unklar. Ich glaube, das liegt daran, dass Prism mehrere Lebenslügen aufdeckt. Die müssen wir aufdröseln, um Antworten zu finden

Lebenslüge 1: Rechtsstaat Deutschland

Die DDR und die Stasi standen jahrzehntelang als Kontrastfolie da zur leuchtenden westdeutschen Demokratie – dabei wurde auch von Anfang an in der ehemaligen BRD kräftig überwacht. Und daran hat sich seit 1989 nichts geändert. Überwachungsskandale gibt es immer wieder, Rudi Dutschke oder Anne Roth sind nur Beispiele unter vielen. Berufsverbote und Rasterfahndung (durch die meines Wissens genau ein RAF-Terrorist aufgedeckt wurde) scheinen Beispiele aus dem letzten Jahrhundert zu sein, aber es hat sich wenig geändert. Prism brauchen wir gar nicht, um uns zu empören, da reichen Fälle wie die illegale Funkzellenabfrage in Sachsen oder die verschiedenen Versuche, einen Staatstrojaner an den Start zu bringen oder oder oder.

Lebenslüge 2: Freund Amerika

Die USA sind eine befreundete Nation. Das hindert sie aber nicht daran, den Internet-Traffic von Freund und Feind im ganz großen Stil zu überwachen – bis hin zu Botschaften, Institutionen und Regierungen. Dieser feindliche Akt eines Freundes ist irritierend, aber viel irritierender ist, dass die deutsche Regierung seltsam ruhig bleibt. Das liegt vor allem daran, dass sie selbst von der Überwachung profitiert, ohne sich die Finger schmutzig zu machen – die NSA arbeitet eng mit dem BND zusammen. Der „feindliche Akt“ ist also eigentlich keiner, sondern eher ein stilles Agreement unter Verbündeten. Dabei ist aus dem Musterland der Demokratie längst auch ein Musterland der Überwachung geworden. Prism mag zwar auf das Ausland gerichtet sein, aber die Homeland-Security arbeitet gezielt mit Denunziation und der komplette Briefverkehrs in den USA wird überwacht.

Lebenslüge 3: Demokratie

Merkel schweigt, Kanzleramtschef Pofalla, der für die Kontrolle der Geheimdienste zuständig ist, ebenfalls, und Innenminister Friedrich zeigt sich gewohnt dummdreist. Leider ist es nicht damit getan, im Herbst einfach die Regierung abzuwählen, schließlich wird in der SPD ähnlich herumgeeiert. Spitzenpolitiker aller im Bundestag vertretenen Parteien (außer der Linkspartei, auf deren Vergangenheit wir hier aber nicht näher eingehen müssen) tun überrascht. Dabei ist die derzeitige Lage einfach nichts neues. Bereits 1989 wussten wir, wie intensiv die NSA uns überwacht. Bereits seit Adenauer hatten die Besatzungsmächte in Deutschland weitgehend freie Hand. Überwachung ist ein kontinuierliches Problem der letzten Jahrzehnte. Es ist also nicht so, dass wir gerade eine „böse Regierung“ haben. Man kann natürlich im Herbst die Piratenpartei wählen, damit es in Fragen Überwachung wenigstens Opposition im Bundestag gibt. Das zu bohrende Brett ist aber – eben auch wegen der USA – sehr, sehr dick und kann nicht mal eben weggewählt werden. Heute ist Snowden eine heiße KartoffelGauck nennt ihn Verräter und niemand will etwas gewusst haben – das fühlt sich für viele an wie damals im Osten. So etwas wie „gute und böse Staaten“ gibt es nicht, alle Regierungen vertreten mehr oder weniger skrupellos ihre Interessen.

Lebenslüge 4: Im Internet gibt es Privatsphäre

Der internet-affine Mensch wusste schon immer: E-Mails sind nicht geschützt, ihr Versand entspricht dem einer offenen Postkarte, die von jedem mitgelesen werden kann, der sich in den Versandweg einklinkt. Es galt schon immer: Wer Vertrauliches mitzuteilen hat, muss ein sicheres Medium wählen, also sich im Park treffen oder halt seine E-Mail verschlüsseln. Verschlüsselung als technische Lösung anzusehen, die ein soziales Problem nicht beheben könne, ist zu kurz gedacht: Wer von uns lässt denn permanent seine Haustür offen stehen, weil Einbruch und Diebstahl schließlich vor allem ein soziales Problem sind? Die Struktur des Internet ist eine offene. Private Räume kann man dort schaffen, aber man muss sie entsprechend sichern. Und darf offenbar nicht darauf vertrauen, dass Anbieter wie Facebook das zuverlässig tun. Das heißt nicht, dass man Facebook & Co nicht mehr benutzen kann. Das bedeutet nur, dass man Cloud-Dienste und Social-Media-Netzwerke immer in dem Bewusstsein benutzen muss, sich hier nicht mehr in seiner Privatsphäre zu bewegen. Der Kontrollverlust über die eigenen Daten ist nicht aufzuhalten – informationelle Selbstbestimmung verkommt angesichts des Internet vom Grundrecht zur Lebenslüge. Wie damals im Dorf. Da konnten wir auch nicht verhindern, dass unsere Nachbarn wissen, was wir so treiben. Tatsächlich ist hier der Ansatz der Postprivacy sogar sehr charmant: Wenn immer mehr (auch private oder gar intime) Daten frei verfügbar sind, verlieren diejenigen ihre Macht, die Datensilos bauen und Datenmonopole inne haben.

Lebenslüge 5: Datenschutz

Die deutschen Datenschutzgesetze sind broken beyond repair. Wir kämpfen mit Abmahungen, stellen Gutachten gegen Gutachten, wenn es um die Nutzung von Liquid Feedback geht, und hauen uns die Köppe ein, ob das Opt-In-Häkchen bei Newsletter-Anmeldungen richtig gesetzt ist oder ob ein Anbieter für seine Dienstleistungen ein permantes Cookie setzen darf. Filesharer bekommen regelmäßig Abmahnungen, aber es ist in Deutschland fast unmöglich, gegen Trolle oder Stalker vorzugehen, die dir gelegentlich das Leben zur Hölle machen können. Datenschutz funktioniert aber nicht denen gegenüber, die wirklich Macht über uns haben, die uns wirklich wehtun können. Das ist vor allem der Staat. Das deutsche Datenschutzrecht muss von Grund auf erneuert werden – weg vom Schutz von Daten hin zum Schutz von Menschen. Wir brauchen eine Stärkung der Grundrechte, bessere Gesetze gegen Diskriminerung, besseren Minderheitenschutz.

Hatten die Aluhüte die ganze Zeit recht?

Eigentlich ist das, was NSA mitschneidet, sowieso öffentlich einsehbarer Datenverkehr, der im Prinzip von jedem zumindest partitiell abgegriffen werden kann. Wenn es die USA nicht macht, macht es halt ein „Schurkenstaat“. Irgendwer findet sich immer. Die Ungeheuerlichkeit bei PRISM liegt von allem in er Geheimhaltung und Unkontrollierbarkeit der Datensammelei und der Tatsache, dass ein im Zweifel skrupelloser Machtapparat diese Daten monopolartig verwendet. Prism zeigt nicht, dass das Internet kaputt ist – anhand von Prism zeigt das Internet einmal mehr, wie kaputt unsere Gesellschaft und Demokratie ist und welche Lebenslügen wir mit uns herumtragen.


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