Die „Bild“ öffentlich gut finden ist in gewissen Kreisen nicht besonders gerne gesehen. Als ich einen frauenfeindlichen und sexistischen und last not least dummen Bild-Kommentar nochmal auf Bild.de nachlesen wollte, konnte ich diesen selbst zwar nicht finden, habe dafür aber eine andere Entdeckung gemacht: Ein Facebook-Kasten zeigt mir, wer in meinem Freundeskreis alles mal bei Bild „gefällt mir“ geklickt hat – diese Zeitung also „mag“ oder neudeutsch liked.
Schnell entwickelte sich auf Facebook und Twitter eine kleine Diskussion: Entfolgen und entfreunden oder nicht? Ich habe niemanden meiner drei Bild-mögenden „Friends“ entfreundet – es würde bedeuten, eine Person anhand eines einzigen und vermutlich irrelevant Kriteriums abzulehnen – schließlich kenne ich nicht die Bewegründe, die jemand hat, Bild zu „liken“. Ein Journalist, Blogger und Socialmediat könnte zum Beispiel einfach nur die Facebook-Aktivitäten des Boulevard-Blattes verfolgen wollen.
Michael Seeman, der meinte, langsam verstünde ich die Filtersouveränität, und scheint mehr oder weniger ernsthaft der Meinung zu sein, ein relevantes Filterkriterium gefunden zu haben, anhand dessen er den Kreis seiner Informationsquellen sortieren könne. Sieht man in Social Media tatsächlich vor allem die Funktion der Individuen als Nachrichtentransporteure, mag diese technokratische wie asoziale Sicht angemessen sein. Soll das „Social Web“ aber nicht nur technisch sondern auch menschlich sozial sein, haben wir hier ein sehr gutes Beispiel dafür, anhand welcher Kriterien man nicht filtern sollte, weil man gar nicht in der Lage ist, die Filterkriterien korrekt zu interpretieren.
Außerdem: Filtern wir individuell anhand von Meinungen, gefährden wir auf subtile Art die Meinungsfreiheit überall dort, wo unpopuläre Minderheitsmeinungen vertreten werden. Wir blenden Menschen aus unserer Do-It-Yourself-Realtität aus. Genauso wie ich Homophobe, religiöse Fundamentalisten und Nazis filtern kann, können diese mich filtern. Alle schmoren in ihrem eigenen Realitätssaft. Wenn etwas in der Postprivacy-Gesellschaft nicht mehr stattfindet, dann ist es echter Dialog über Grenzen hinweg.
Halb belustigend, halb erschreckend dann der Wettbewerb, der auf Twitter stattfand: Etliche Follower überboten sich darin, wer am wenigstens Bild-likende Friends auf Facebook hat. Einige haben wohl auch die eine oder andere Person aufgrund ihres öffentlichen Statements entfreundet. Das ganze ist glücklicherweise nicht eskaliert, bietet aber einen Vorgeschmack auf die Hexenjagden, die uns Postprivacy bescheren wird, und dem Gruppendruck, dem wir uns zu unterwerfen haben, wenn wir nicht auch einfach weggefiltert werden wollen. Jeder seinem nächsten ein kleiner Big Brother.
Ich halte die Friede-Freude-Eierkuchen-Utopie, die im Zuge von Postprivacy postuliert wird, gelinde gesagt für naiv. Die Menschen werden sich so schnell nicht ändern, bloß weil es sinnvoll sein könnte, künftig zu ignorieren, was ihnen aneinander nicht passt. Ja, die Digialisierung ist nicht mehr aufzuhalten. Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch kulturelle Regeln und Gesetze finden könnten – also auch bestimmte Querys als Verbrechen zu definieren und zu verbieten, sobald diese dem abgefragten Individuum Gewalt antun. Die ewige Existenz von Mord und Diebstahl ist kein Grund, die entsprechenden Gesetztesverbote abzuschaffen – genauso ist das Aufkommen von Postprivacy kein Argument, auf Datenschutz zu verzichten, sondern im Gegenteil Anlass, überhaupt angemessene Datenschutzgesetze zu schaffen und durchzusetzen.
Es wird eine politische Frage sein, hier zwischen den Wünschen derjenigen, die Daten abfragen wollen und derjenigen, die davon betroffen sind, auszugleichen. Eine Frage der Datengerechtigkeit. Ich möchte gerne der Postprivacy eine New Privacy gegenüberstellen.
18 Antworten zu „Postprivacy und Gruppendruck: Ein Experiment“