Schlagwort: Piratenpartei

  • Nerz-Bashing

    Ich war dieses Wochenende nicht in Heidenheim, konnte also nicht mit abstimmen und habe den Parteitag teilweise von Zuhause verfolgt. Eigentlich hätte ich mir ja Christopher @Schmidtlepp Lauer gewünscht, obwohl wir in ein paar Dingen, vor allem beim LQFB, heftig über Kreuz liegen, weil ich schon immer eine Schwäche für politische Exzentriker hatte. Über Sebastian Nerz wusste ich kaum etwas, außer dass er Landesvorsitzender in Baden-Württemberg ist und Jens Seipenbusch ihn als Nachfolger empfohlen hat. Ich glaube, ich bin damit wirklich unverdächtig, ein Nerz-Fanboy zu sein.

    Das Nerz-Bashing, welches nach der Wahl einsetzte, ist der reinste Kindergarten. Zwischen den Zeilen lese ich Ablehnung, weil Sebastian nicht glasklar links ist – und das in einer Partei, die weder links noch rechts sein will. Einer der Kritikpunkte ist wohl seine CDU-Vergangenheit. Ich finde es zwar auch seltsam, dass er in der CDU war, obwohl er sie bundespolitisch damals schon nicht gemocht haben will, aber er war eben gegen Schröder und Rotgrün und hey: Ich kannte mehrere Leute, die so mit 16 in Parteien eingetreten sind, nur weil ihre Eltern oder Freunde drin waren.

    Ich möchte also Sebastian nicht daran messen, ob er mal in der CDU war, sondern daran, was er heute so sagt und treibt. Ich habe mir aufgrund der Beschimpfungen mal näher angesehen, was sich im Wiki, auf Twitter, Formspring und vor allem auch in seinem Blog finden lässt, und bin überrascht, wie sehr ich mit diesem scheinbar „rechten“ Piraten übereinstimme, wo ich selbst doch als linke Socke verschrien bin.

    • Sebastian möchte, wenn ich ihn richtig verstanden habe, die politische Arbeit besonders in der Außenwirkung und in der Pressearbeit gerne professionalisieren und das Verhältnis Basis/Vorstand neu austarieren. Ich habe keine Ahnung, wie er das im Detail machen will, aber daraus einen „Führer“ zu stilisieren, ist doch arg ins Klo gegriffen. Nach ungefähr eineinhalb Jahren innerparteilicher Trostlosigkeit freue ich mich darüber und bin gespannt, was er machen wird und wie es im im Detail gelingt.
    • Er hält Liquid Feedback für gescheitert, will das System aber ohne Parteitagsbeschluss nicht abschalten, ansonsten auch andere Systeme testen und fordert vor allem – ganz Datenschützer – Anonymität für die Abstimmenden, weil es nur dann wirklich freie und geheime Wahlen sind. Was ich auch schon immer sagte.
    • In der Datenschutz- und Spackeria-Debatte nimmt er die Haltung des Datenschützers ein und empfindet eine vollkommen transparente Gesellschaft ohne Anonymität, in der jeder alles über alle wissen kann, als dystopisch. Genau wie ich. Ich bin sogar der Auffassung, dass die Piratenpartei auf gar keinen Fall Spackeria-Positionen vertreten darf. Warum, werde werde ich demnächst noch woanders ausführlich bloggen und möchte an dieser Stelle nur mal an „Piratsphäre“-Aufkleber erinnern…
    • Sebastian sucht einen Mittelweg zwischen delegierter und direkter Demokratie und rührt damit an ein innerparteiliches Dogma. Direkte Demokratie zweifele ich schon lange an. Um zu verstehen, dass Plebiszite nicht funktionieren, muss man gar nicht erst aufs Schweizer Moscheeverbot schauen – einmal im Jahr European Song Contest gucken reicht völlig. Dass ausgerechnet einem Skeptiker der direkten Demokratie vorgeworfen wird, er habe in Heidenheim „Heimvorteil“ bei der Abstimmung gehabt, ist nicht nur ein schlechter Witz, sondern auch noch falsch.
    • Auch wenn viele Piraten das Thema nicht mehr hören können, liegen mir die Feminismus-Debatte und Genderthemen am Herzen. Die Piratenpartei ist meiner Erfahrung nach bis auf wenige Ausnahmen nicht postgender sondern eher postpubertär. Ich möchte, dass Frauen gerne in die Partei kommen und sich wohl fühlen, was aber nur sehr wenige auch tun. Piratensympathisantinnen fühlen sich in den „Jungsgruppen“ oft diffus unwohl, und viele männliche Piraten finden, dass Frauen da selbst dran schuld seien. Ich finde es sehr erfrischend, dass Sebastian hier die Haltung vertritt, dass sich in der Partei mindestens der Ton ändern müsse, auch wenn ich persönlich mir ja Quoten wünschen würde. Ganz nebenbei vertritt Sebastian übrigens Homoehe und Adoptionsrecht für Homosexuelle. So furchtbar schlimm rechts kann er also gar nicht sein.
    • Sebastian legt wert darauf, dass die Piratenpartei das bedingungslose Grundeinkommen nicht wörtlich beschlossen hat, was auch stimmt. Er hält es für nicht machbar. Ich selber vertrete das BGE zumindest als Vision für die Zukunft, bin mir aber nicht sicher, ob ich mir als König von Deutschland trauen würde, es hier und heute einzuführen. Von daher kann ich seine Haltung verstehen. Ansonsten ist er kein Kernie sondern möchte, dass das Programm moderat erweitert wird, schon alleine deshalb, weil IT, Transparenz, Datenschutz, Bürgerrechte und Bildung Querschnittsthemen sind, die viele Gebiete betreffen. Wir müssen ja nicht gleich einen auf Volkspartei machen und ich bin da sehr bei ihm.

    Mein persönliches und vorläufiges Fazit: Ich bin nachträglich positiv überrascht, wen wir da gewählt haben. Dieses ganze Gerede von „Piratenmerkel“ und „falscher Kandidat gewählt“ kann ich nicht so recht nachvollziehen, außer man ist eben in obigen Punkten völlig anderer Meinung als ich. Jetzt muss sich zeigen, wie er sich in der Praxis hält. Aus Baden-Württemberg hört man ja eigentlich nur gutes. Sebastian, ich wünsche dir unbekannterweise viel Glück und Erfolg.

  • Der gehörlose Vorsitzende

    Der gehörlose Vorsitzende ist ein Gedankenspiel der AG Barrierefreiheit in der Piratenpartei. Die Grundidee – nämlich alle Strukturen in der Partei so auszurichten, dass beispielsweise auch ein Gehörloser Vorsitzender sein könnte – begeistert zunächst und ist furchtbar sympathisch. Allerdings auch völlig undurchdacht. Das beginnt schon damit, dass Menschen mit verschiedenen Behinderungen verschiedene und leider teilweise auch konkurrierende Bedürfnisse an ihre Umwelt haben, die sich niemals vollständig realisieren lassen.

    Bleiben wir beim Beispiel des Gehörlosen: Er ist in Telkos, Versammlungen, Hinterzimmergesprächen, auf Parteitagen, in Interviews und Talkrunden auf völlige Barrierefreiheit angewiesen, das bedeutet auf unbedingten und vollständigen guten Willen seiner Umgebung, so mit ihm zu kommunizieren, dass er damit zurechtkommt. Das ist etwas, worauf sich ein Politiker keinesfalls verlassen kann. Ein geflüstertes Wort am Rande, dass alle mitkriegen, nur der gehörlose Vorsitzende nicht – so etwas können sich normal hörende Menschen schlicht und ergreifend nicht vorstellen, untergräbt die Autorität. So viel Political Correctness, wie nötig wäre, um das auszugleichen, bringen auch die Piraten nicht mit.

    Natürlich gibt es Mailinglisten, IRC, Wiki und Liquid Feedback. Allerdings findet Politik auch in der Piratenpartei eben dort nur teilweise statt sondern immer noch da, wo sich die Alphatiere konkret zusammensetzen und miteinander reden. Eine solche Situation nicht formalisierter Gruppengespräche überfordert nicht nur die meisten stärker schwerhörigen Hörgeräte-Träger und gehörlose CI-Träger, sondern auch Gebärdensprache-Dolmetscher, die übrigens auch nur zu bestimmten Arbeitszeiten zur Verfügung stünden und nicht unbedingt Samstag Abend um 23.00, obwohl sie dann vielleicht benötigt würden.

    Bleibt noch das Argument „Oscar Pistorius„, der mit seinen High-Tech-Protesen schneller laufen kann als Menschen mit organischen Füßen. Eine solche technische Lösung ist zumindest theoretisch für fast jede Behinderung denkbar – zum Beispiel das Cochlea-Implantat für Gehörlose. Das hat aber rein gar nichts mit der Fragegestellung zu tun. In dem Moment, wo eine Behinderung technisch vollständig ausgeglichen wird, ist der Behinderte eigentlich gar nicht mehr behindert – jedenfalls nicht mehr auf eine barrierefreie Umgebung angewiesen. (Und ein solcher Kandidat könnte selbstverständlich auch eine Partei führen.)

    Einem gehörlosen Kandidaten zum Bundesvorsitz würde ich jedenfalls meine Stimme verweigern. Bei mir sträubt sich alles bei dem Gedanken, einen kommunikationsbehinderten (und nichts anderes ist Gehörlosigkeit) Menschen einen Job machen zu lassen, der zu den kommunikationslastigsten überhaupt gehört. Wenn wir versuchen, mit diesem Anspruch Barrierefreiheit in der Partei durchzusetzen (und später nach außen zu tragen) weden wir zwangsläufig auf Ressentiments und Widerstände stoßen. Stattdessen sollten wir in erster Line schauen, wie wir das einfache Mitglied möglichst effektiv in die Partei und ihre (Kommunikations-)Strukturen integrieren. Ideen gäbe es etliche, z.B. keine Versammlungen mehr ohne Mikrofone und Mikroport-Anlage, um nur ein Beispiel zu nennen.

    An die Spitze wählen möchte ich aber eine „handicapfreie Kampfmaschine“ für’s politische Haifischbecken. Das hat mit Diskriminierung wenig zu tun. Die ganze Debatte zeugt von einem veralteten Denken im Gegensatzpaar „behindert“ – „nicht behindert“. Der Übergang vom Haben oder Nichthaben einer Fähigkeit hin zu einer handfesten Behinderung ist durchaus fließend. Niemand wird Schwerhörige im Callcenter beschäftigen. Querschnittsgelämte arbeiten gemeinhin nicht auf dem Bau. Leute mit Problemen in Mathematik werden eher selten Ingenieur. Und trotzdem kann jemand wie Pablo Pineda Akademiker werden. Der Blick auf solche glänzenden Ausnahmen zeigt natürlich, was visionär möglich wäre, verstellt aber völlig den Blick den Alltag, die Probleme und Bedürfnisse der „ganz normalen Behinderten“, die in Deutschland in einem Ausmaß ausgegrenzt sind, von dem wir uns keine Vorstellung machen und über das wir auch nicht informiert sind. Das Gedankenspiel vom gehörlosen Vorsitzenden ist vor diesem Hintergrund Märchen- oder Leuchtturmpolitik.

    P.S.: Nochmal anders sieht die Lage aus, als Abgenordneter zu kandidieren. Hier würde ich sehr wohl die Kandidatur gehörloser Menschen begrüßen. Die Arbeit als ein Abgeordneter unter vielen einer Fraktion ist aber nochmal eine ganz andere als die eines Parteivorsitzenden.

    Update: Not quite like Beethoven hat mir geantwortet und ich stimme ihm durchaus zu. Besonders interessant finde ich seine Kritik an der gehörlosen Abgeordneten Helene Jarmer, die genau meine Meinung zu diesem Thema zusammenfasst.

  • Liquid Feedback: Transparenz als Irrweg

    Update 03.02.2011: Nach viel Nachdenken und Diskussionen habe ich meine Meinung in diesem Thema komplett geändert.

    Update 08.03.2013: Nachlesen kann man das hier:

  • Links der Woche

    Thema European Song Contest. Lena. Der einzig wahre Grand-Prix-Song ever ist und bleibt:

  • Tauss verurteilt: …und alle Fragen offen (Update)

    Jörg Tauss ist wegen des Besitzes von Kinderpornographie zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Die schriftliche Urteilsbegründung steht noch aus und sollte von juristisch besser bewanderten Bloggern analysiert werden. Ich würde mich nicht wundern, wenn Tauss in Berufung geht. Jörg Tauss will in Berufung gehen.

    Wie schon vorher erwartet, klärt das Urteil eigentlich nichts. Es ging nicht um die Frage, ob er das „Material“ besessen hat – das stand schon vorher fest. Juristisch ging es um die Frage, ob er es als Abgeordneter des Bundestages in Ausübung seines Mandats besitzen durfte. Das hat das Gericht mit diesem Urteil verneint. Eigentlich ging es aber um etwas noch anderes, etwas juristisch kaum greifbares: Zu welchem Zweck er das Zeug besessen hat.

    Da gibt es Indizien, die für einen „privaten Konsum“ sprechen wie zum Beispiel Tatsache, dass er nach Ende seiner Recherchen weder mit dem Ergebnis an die Öffentlichkeit ging, noch das Material vernichtete. Es gibt Indizien, die dagegen sprechen, wie die mittlerweile so häufig zitierte „szeneuntypische Menge“ und es gibt Scheinindizien wie die Unterbringung im Schlafzimmer, die nichts zur Sache tut, da ihm in seiner Dienst-WG sowieso nur ein Zimmer zur Verfügung stand.

    Es ist egal, ob es bei diesem Urteilsspruch bleibt oder Jörg Tauss in Berufung gehen wird; klären kann man allenfalls, ob er doch durfte, was er tat. Nie klären können wir, ob er es aus unlauteren oder ehrenhaften Beweggründen tat. Jetzt wird nochmal deutlicher, was schon vorher klar war: Der „Fall Tauss“ ist eine Glaubensfrage, die letztlich über das tabubehaftete Thema und persönliche Sympathie oder Antipathie entschieden wird. Freilich: Die Öffentlichkeit wird nicht so stark differenzieren. Sie stellt lediglich die Worte „Tauss“, „Kinderpornographie“ und „verurteilt“ in eine Reihe.

    Verliert er seine Mitgliedschaft in der Piratenpartei automatisch? Nach §5(1) der Bundessatzung passiert das bei Aberkennung der Wählbarkeit oder des Wahlrechts. Nach §45(1) StGB verliert jemand, der zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wurde, der für ein Verbrechen verurteilt wurde, auf das eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr steht, das passive Wahlrecht für fünf Jahre. Das ist hier der Fall, also müsste seine Parteimitgliedschaft eigentlich automatisch erlöschen, sobald das Urteil rechtskräftig wird. Das ist hier nicht der Fall, weil es sich nicht um ein Verbrechen sondern um ein Vergehen handelt; also gibt es auch keinen automatischen Parteiauschluss. (Dank an Jan Scheijbal für die nähere Erläuterung.)

    Juristisch ist die Sache also (vorerst) geklärt. Politisch wird es keine Alternative zum Parteiausschluss geben, es sei denn, man ändert die Satzung oder Jörg Tauss wird in höherer Instanz doch noch freigesprochen. Menschlich bleibt alles eine Glaubensfrage, und da sollte nach wie vor „in dubio pro reo“ gelten – oder einfach die Anerkenntnis, dass er bereits bestraft wurde.

    Allen, die tiefer in das Thema einsteigen möchten, empfehle ich sehr die Prozessbeobachtungen bei bruchsal.org.

  • Links der Woche

    Zum Schluss: Wer erinnert sich nicht an La Linea, das kleine Strichmännchen aus Italien?

  • Gewinner und Verlierer in NRW

    Wie schon zur Bundestagswahl hier mein alternativer Blick aufs Wahlergebnis in absoluten Zahlen.

    2010 2009 2005 Differenz (09)
    Differenz (05)
    Nichtwähler 5.511.608 3.921.526 4.986.352 +1.590.082 +525.256
    Grüne 940.770 945.831 509.293 -5.061 +431.477
    Linke 434.846 789.814 181.988 -354.968 +252.858
    Piraten 119.581 158.585 0 -39.004 (119.581)
    FDP 522.437 1.394.554 508.266 -872.117 +14.171
    SPD 2.675.536 2.678.956 3.058.988 -3.420 -383.452
    CDU 2.681.736 3.111.478 3.696.506 -429.742 -1.014.770

    In den Medien wird das Wahlergebnis mal mit der letzten Bundestagswahl, mal mit der Landtagswahl 2005 verglichen und das oft bunt durcheinander. Beides muss man trennen. Hier ein paar Fakten zum Wahlergebnis, die so nur teilweise in den Medien vorkommen:

    • Gewinner der Wahl sind einmal mehr die Nichtwähler. Sie stellen mittlerweile in Folge nicht nur die größte Gruppe sondern haben weiterhin auch die höchste Zuwachsrate.
    • CDU und SPD haben gemeinsam weniger Stimmen als die Nichtwähler. Eine große Koalition würde nur noch etwa 40% der Bevölkerung repräsentieren.
    • Von den Parteien haben die Grünen mit großem Abstand die meisten Stimmen hinzugewonnen und konnten sich fast verdoppeln.
    • An zweiter Stelle folgt die Linkspartei, die ihr Ergebnis von 2005 sogar verdreifachen konnte.
    • Grüne und Linkspartei haben weitaus mehr Stimmen gewonnen, als die SPD verloren hat. Die Wahl war definitiv ein Linksruck.
    • Die FDP gewinnt leicht an Stimmen hinzu.
    • Die SPD verliert noch einmal ungefähr 12% ihrer Stimmen.
    • Die CDU verliert 25% ihrer Stimmen, bleibt aber zugleich stärkste Partei.

    Interessant wird der Vergleich zur Bundestagswahl 2009:

    • Ausnahmslos alle Parteien haben gegenüber der Bundestagswahl Stimmen verloren. Es gibt keine Gewinner.
    • Die CDU befindet sich in einem permanenten Abwärtstrend, wie er ihr schon seit längerem vorausgesagt wird.
    • Größter Verlierer ist die FDP und büßt katastrophale 62% ihrer Zweitstimmen ein.
    • Der drittgrößte Verlierer ist der „Wahlgewinner“ Linkspartei.
    • Die Piraten büßen gegenüber 2009 etwa 25% ihrer Wähler ein.
    • Einzig stabil erscheinen SPD und Grüne.

    Dass das Wahlergebnis eine Ohrfeige für Merkel und Westerwelle ist und schwarzgelbes Regieren bis zur nächsten Bundestagswahl verunmöglicht, schreiben sowieso alle. Interessant ist die Konsequenz des Ergebnisses in Nordrhein-Westfalen. Jürgen Rüttgers ist derart abgestraft, dass sich für ihn kaum noch ein Regierungsauftrag ergibt, es sei denn, er macht auf Koch – bei Hannelore Kraft sieht es aber insgesamt so viel besser nicht aus. Die SPD konnte vom Linksruck nicht profitieren. Es gibt keinen natürlichen König und die Grünen sind zum Königsmacher geworden. Der Linksruck war vor allem ein Grünruck. Die Frage ist eigentlich, wie die Grünen sich selber sehen bzw. wie die Wähler das tun. Im herkömmlichen Lagerdenken würde das Ergebnis bedeuten, dass nun endlich mal die linke Mehrheit aus Rot-Rot-Grün zum Zuge kommen sollte. Da die Grünen allerdings immer mehr zur neuen „bürgerlichen Mitte“ werden, wäre Schwarz-Gelb-Grün nach Hamburg und dem Saarland ebenso logisch. Das wäre auch die langfristige Machtoption für Angela Merkel. Westerwelle hat in Berlin bereits einmal mit Koalitionsbruch gedroht. Mit Schwarzgrün im Bund könnte Merkel (die SPD so halb im Bundesrat im Schlepptau) komfortabler regieren und vermutlich damit die Grünen langfristig auch wieder zurechtstutzen. Dem stehen derzeit noch die vielen schwarzgelben Koalitionen in den Ländern entgegen.

    Ein Wort zur Piratenpartei:

    Das Ergebnis ist enttäuschend. Das Hochgefühl des Sommers 2009 in verflogen. So gesehen ist es sogar noch erstaunlich, dass die Piraten sich über 1% halten konnten. Das spricht dafür, dass es eben keine reinen Protestwähler sind, die die Piraten wählen, sondern dass der 1%-Sockel hält, den die Partei bundesweit aufgebaut hat. Er muss allerdings noch erweitert werden. Watschen für Westerwelle, Angst um den Euro, Dauerbrenner Hartz IV und die zum Teil katastrophalen Arbeitslosenzahlen im Ruhrgebiet, Griechenlandhilfen: Kaum ein wichtiges Thema der Landtageswahl in NRW spielte eine Rolle, das man mit den Piraten in Verbindung bringen würde. Themen wie Bildung oder Atomausstieg halten die Grünen ganz ähnlich und erfolgreicher besetzt. Dementsprechend fiel das Wahlergebnis aus. Zwar haben sich die dortigen Piraten bemüht, ein breites Programm aufzustellen, beim Wähler kam jedoch kaum etwas davon an. Auch wenn ich Befürworter der Programmerweiterung bin: So etwas braucht Zeit. Sehr viel Zeit. Die Piratenpartei darf nicht einfach nur fordern, was schon in anderen Parteiprogrammen steht, sondern muss genuin eigene Forderungen entwickeln. Die sind aber meist erst in Ansätzen vorhanden. Die Piratenpartei darf nicht den Fehler machen, Wähler zu umgarnen, die sie sowieso nicht wählen werden, sondern muss sich auf die Kernkompetenzen reduzieren. Der Wahlkampf muss zurück ins Internet. Die eigene Zielgruppe wächst, und zwar dort. Und will bedient werden. Der Rest kommt mit der Zeit.

  • Links der Woche

    Und ein wirklich wunderschönes Stück: Eric Whiteacre hat die Youtube-Videos von etwa 200 Sängern zu einem virtuellen Chor zusammengemixt.

  • Links der Woche

  • Wir wählen, was vor 10 Jahren Zeitgeist war

    Wenn ich über die Politik und die Ergebnisse der Bundestagswahlen der letzten Jahrzehnte nachdenke, fällt mir ein interessantes Phänomen auf: Wir wählen um 10 Jahre zeitversetzt.

    Nehmen wir beispielsweise die Friedens- und Anti-Atomkraftbewegung, die 1979 in die Gründung der Grünen gipfelte, aber auch in die so genannte „geistig moralische Wende“ des Jahres 1982. Zehn Jahre später, 1988 war es Zeitgeist und Common Sense, Kohl & Co vollkommen abzulehnen. Die Medien waren sich darüber einig, dass er abgewirtschaftet hatte und nur die deutsche Vereinigung der CDU 1990 noch einmal extremen Auftrieb gab. Sonst hätten wir 1990 wohl schon ein rot-grüne Regierung bekommen, was sich freilich nicht beweisen lässt.

    Erst 1998 war es dann soweit: Schröder wurde Kanzler; das allerdings zu einem Zeitpunkt, als junge Menschen sich gegen ihre 68er-Eltern absetzten und konservativer wurden. Was ein paar Jahre zuvor undenkbar war – als Abiturient offen die CDU toll finden, ohne dabei ein pickeliger Stahlbrillengestell-Außenseiter zu sein, wurde irgendwann um das Jahr 2000 herum Normalität. Umgekehrt: Linke galten als verstaubt. Wir wissen aber alle, dass Stoiber die Wahl 2002 nicht gewann und es Rot-Grün war, die eine neoliberale Politik machte.

    2009 dann endlich vollzog sich dieser Wechsel. Die schwarz-gelb Regierung steht nun da und kann gar nicht die Politik machen, für die sie steht, weil der Haushalt keine Spielräume zulässt, weil der Spitzensteuersatz längst gesunken ist, Hartz IV eingeführt und öffentliche Einrichtungen exzessiv privatisiert wurden. Also wird herumlaviert, bis vielleicht eine Regierung in 10 Jahren die Themen aufnimmt, die heute auf der Straße liegen: Bildung, Automatisierung und Rationalisierung auch intellektueller Tätigkeiten, Neudefinition von Arbeit, bedingungsloses Grundeinkommen, Bürgerrechte, staatliche und private Überwachung, Datenschutz und überhaupt alle Verwerfungen, die das Internet mit sich brachte. Zusammengefasst: die neue soziale Frage.

    Natürlich ist das nur eine vage Beobachtung, für deren Untersuchung wohl eine Dissertation nötig wäre. Aber zwei Dinge interessieren mich dann gerade doch: Korreliert das dieser Intervall irgendwie mit der Verbreitungsgeschwindigkeit von Memen (speziell bei abgeschaltetem Internet-Turbo) und: Wo die Piraten 2020 wohl stehen werden?