Zensursula 2.0 oder: Kopfschütteln über Köhler

Bundespräsident Köhler hat unterschrieben: Das „Zugangserschwerungsgesetz“, untrennbar verknüpft mit „Zensursula“ von der Leyen. (Die meisten meiner Leser können zum Ende dieses Absatzes springen.) Das Gesetz will Kinderpornographie im Web bekämpfen, indem es Zensurmechanismen errichtet, die brandgefährlich für Demokratie und Meinungsfreiheit sind und leider gar nichts gegen Kinderpornographie ausrichten. Das Gesetz kam unter dubiosen Umständen zu Stande: Nach der 1. Lesung im Bundestag wurde es schnell noch geändert und dann in 2. und 3. Lesung zugleich durchgewunken, obwohl eine neue erste Lesung hätte stattfinden müssen. Dann wurde es nicht rechtzeitig an die EU gegeben, weil verschiedenerlei Bedenken bestanden. Und schließlich möchte die neue Regierung das Gesetz, so es denn in Kraft tritt, einfach nicht mehr anwenden. Unter politischen und staatsrechtlichen Aspekten hätte Köhler ohne Probleme seine Unterschrift verweigern können und darauf verweisen können, doch bitte erst das Kuddelmuddel zu klären, völlig unabhängig vom Inhalt des Gesetzestextes. Hat er aber nicht. Warum?

Das wird jetzt ein wenig abstrus, aber ich träume mal laut: Zensursula war verantwortlich für die erfolgreichste Petition seit Bestehen der Bundesrepublik. Es hat der Piratenpartei und etlichen Initativen einen enormen Aufwind beschert. Zahllose unpolitische Menschen fingen plötzlich wieder an, sich politisch zu engagieren. Dann kam die Bundestagswahl, die Regierung schwenkte auf „Löschen statt Sperren“ – die Kernforderung von AK Zensur über Mogis bis Piratenpartei – und wollte ein neues „Löschgesetz“. Trotz vieler bürgerrechtlicher Brandherde wie z.B. der immer noch auf Verhandlung wartenden Vorratsdatenspeicherung, dem SWIFT-Abkommen, der Gesundheitskarte, ELENA, Nacktscanner, Kindernet, ACTA usw. schlaffte die Bewegung ab. Das Gefühl des „Sommers 2009“ war irgendwie futsch. Nun hat Köhlers Unterschrift alle wieder alarmiert. Die Piraten demonstrieren vor dem Präsidialamt. Verschiedene Gruppen hecken Proteste alle Art aus oder wollen Verfassungsbeschwerde einlegen. Twitter und die Blogosphäre brodeln. We’re back. Konnte Köhler der Bewegung einen besseren Gefallen tun?

Leider bleibt es wohl beim abstrusen Traum. Denn das BKA pflegt ja weiterhin Zensur-Listen aufgrund der Verträge, die es im Frühjahr 2009 mit einigen Providern getroffen hat. Das wäre ohne gesetzliche Grundlage illegal. Und ich fürchte, genau deshalb musste Köhler unterschreiben. Jetzt kommt Zensursula 2.0. Mein Traum wäre mir lieber.

Aaron und der Iran (Update)

Stefan „Aaron“ König fordert in seinem Blog „Politicool“ die Bombardierung des Iran, um die dortigen Atomanlagen auszuschalten. Dafür bekommt er gerade einmal mehr ziemlich viel Ärger innerhalb der Piratenpartei. Doch auch die Beschimpfungen, denen er ausgesetzt ist, sind mir oft zu platt. Es ist wert, sich die Lage einmal etwas genauer anzusehen.

Konstitutionell gibt es außer der Türkei keinen Staat nur sehr wenige Staaten im muslimischen Raum, der unserem Verständnis von Demokratie näher kommen, als der Iran. Es handelt sich nicht um eine Diktatur, sondern eine Theokratie, in der der Wächterrat und die Ayatollahs eine ähnliche Rolle einnehmen wie der König in einer konstitutionellen Monarchie. Persien ist eine uralte Kulturnation mit regional beispielloser Bildungs- und Alphabetisierungsrate. Der Iran hat seit vielen Jahrzehnten keinen Krieg geführt, wurde aber im 1. und im 2. Weltkrieg von britischen und russischen Truppen besetzt und im 1. Golfkrieg vom Irak angegriffen. Umgeben von den Atommächten Israel, Russland, Pakistan, China und Indien (sowie dem Nato-Mitglied Türkei und den US-Truppen im Irak) ist es alles andere als verwunderlich, dass der Iran versucht, an Nukleartechnologie zu gelangen. Die Anreicherung von Uran auf 20% widerspricht nicht dem Atomwaffensperrvertrag und reicht auch nicht für militärische Zwecke, wofür das Uran auf über 90% angereichert werden müsste. Es gibt eine Resolution der UNO gegen den Iran, die Sanktionen gegen das Land vorsieht, aber gleichzeitig einen Passus enthält, der militärische Maßnahmen gegen den Iran verbietet. Rein rechtlich sollte eine UNO-Resolution für deutsche Politiker bindend sein.

Von 1979 bis 2009 sind Wahlen und Machtübergaben im Iran friedlich verlaufen. Im Sommer 2009 kam es zu Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen. Es gab Indizien für Wahlfälschung, worauf Demonstrationen, Aufstände, staatlicher Terror gegen die Opposition, Unterbindung der Meinungsfreiheit und anderer Grundrechte, Zensur des Internet usw. folgten. Das ganze muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die Menschenrechte in der iranischen Rechtsordnung fundamental missachtet werden, und zwar nicht nur nach westlichen Maßstäben sondern auf teilweise barbarische und mittelalterliche Art und Weise – man denke nur an Steinigungen von „Ehebrecherinnen“. Die iranische Führung steht deshalb der eigenen Bevölkerung gegenüber unter erheblichem Druck. Der Aufbau eines äußeren Feindbildes bis hin zum Krieg ist ein klassisches Mittel, um die Bevölkerung wieder hinter die Führung zu bringen.  Ahmadinedschad war schon aus seiner Zeit als Bürgermeister Teherans als radikaler Fundamentalist und Antisemit bekannt. Er kokettiert mit Holocaust-Leugnern. Juden werden im Iran diskriminiert, allerdings auch Christen und nicht schiitische Moslems. Ahmadinedschad ist unberechenbar in der Frage, ob er nur pokert oder wirklich tun würde, was er sagt, wenn er Israel „aus der Geschichte tilgen“ möchte. Dass Israel sich in dieser Lage bedroht fühlt, ist wahrlich kein Wunder. Die Israelis üben seit 2007 Luftschläge auf iranische Atomanlagen. Niemand kann sagen, warum noch keine durchgeführt wurden und sie können täglich passieren. Besonders gefährlich an der Situation ist, dass anscheinend einige iranische Nuklearanlagen dermaßen gut gegen Bombardements abgesichert sind, dass man Atomwaffen einsetzen müsste, um sie zu vernichten. Sollte das stimmen, impliziert die Forderung nach einem Militärschlag gegen den Iran einen Atomschlag. Verzichtet man auf diesen, riskiert man einen Krieg mit allen folgen, ohne das Ziel des Angriffes zu erreichen.

Ich widerspreche denjenigen, die die Situation mit 2003 vergleichen, als die so genannte „Koalition der Willigen“ Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen andichtete. Niemand behauptet, der Iran habe Atomwaffen und im Gegensatz zum Irak 2003 gibt der Iran offen zu, ein Atomprogramm zu besitzen und dieses ungeachtet von UNO-Sanktionen fortsetzen zu wollen, wenn auch angeblich zu zivilen Zwecken. Während der Iran wahrscheinlich keine biologischen Kampfstoffe hat, so scheint er doch über chemische Waffen aus den 70er Jahren zu verfügen. Das ist eine völlig andere Lage.

Die einzige Antwort in dieser äußerst komplexen Situation kann nur eine Entspannungspolitik sein, die beide Seiten ernst nimmt. So lange Ahmadinedschad regiert, muss unter allen Umständen versucht werden zu verhindern, dass der Iran an Atomwaffen gelangt. Gleichzeit muss ein Krieg gegen den Iran vermieden werden, egal ob von Israel ausgehend oder irgendwelchen Allierten. Ein solcher Krieg würde nicht nur die Iraner sondern die ganze muslimische Welt hinter Ahmadinedschad einigen und weitere Kriege, bewaffnete Konflikte sowie Terroranschläge auf der ganzen Welt nach sich ziehen. Nach meinem Verständnis der Werte der Piratenpartei kann unsere einzige Forderung sein, dass man vollkommen ideologiefrei und unabhängig von bestehenden Sympathien beide Seiten dazu bringen muss, still zu halten und zwar auf Grundlage des internationalen Rechts.

Zum Schluss ein paar Anmerkungen zum Blogpost von Stefan „Aaron“ König. Dass er laut denkt und im Konjunktiv formuliert, ein Militärschlag gegen den Iran könne „einen weit größeren Schaden vermeiden“, fällt ganz bestimmt nicht unter den §80a des StGB sondern wohl eher unter Meinungsfreiheit. Auch wende ich  mich gegen alle, die in Sympathien zu Isreal etwas verwerfliches sehen. Mich stört eher seine Wortwahl. Zum Beispiel redet er abwertend von „Appeasement-Politikern“ und zieht dabei bewusst oder unbewusst eine Parallele zur Münchner Konferenz von 1938 und diffamiert so den Versuch, sich politisch für eine Entspannung in der Region einzusetzen. Aussagen wie, dass „die Zeit für Verhandlungen und Kompromisse vorbei“ sei und „dass wir uns von ihnen nicht länger auf der Nase herumtanzen lassen“ entlarven ein mindestens unsachliches Denken und erinnert mich ein wenig an das Säbelgerassel eines Wilhelm Zwo. Wird Zeit, dass der Stammtisch-Demagoge an selbigen zurückkehrt.

Update 21.02.

Bei der letzten Vorstandssitzung wurde Aaron zwar kein Maulkorb verpasst, aber er verzichtete darauf, weiterhin für die Partei zu sprechen. Das fand ich etwas mau, aber hinnehmbar – bis heute ein Artikel in der taz erschien samt ergänzendem Blogpost in Aarons Blog. Dort hält er an seiner Forderung fest und tut Appeasement-Poltik als „nett gemeint“ ab. (Gedanken hierzu von Frau Forschungstorte)

Damit ist die Schwelle endgültig überschritten, denn der taz-Artikel war als „Streit der Woche“ angelegt, bei dem auch Vertreter verschiedener Parteien zu Wort kommen sollten. Für den Außenstehenden muss sich der Eindruck einstellen, dass die Piratenpartei für einen Militärschlag gegen den Iran stehe, was absoluter Blödsinn ist.

Das Protokoll der letzten Sitzung des Bundesvorstandes lässt offen, ob Aaron das Interview der taz da schon gegeben und verschwiegen hatte, oder ob es erst danach stattfand. Beides ist einfach nur dreist. Das Interview mit der taz fand nach dieser Vorstandssitzung statt, was einfach nur noch dreist ist. Mittlerweile fordern viele Piraten einen Parteiausschluss. Parteischädigendes Verhalten liegt wohl vor, dennoch tue mich mich aus Gründen der Meinungsfreiheit schwer damit. Nur im Bundesvorstand hat er endgültig nichts verloren. Es kann einfach nicht sein, dass die Parteidiskussion dauernd nur daraus besteht, dass Aaron etwas sagt, und alle sich drüber aufregen. Ihm gegenüber hat eine „Appeasement-Politik“ langsam keinen Sinn mehr.

Dresden nazifrei (Update)

Am 13. Februar wird es einen großen Nazi-Aufmarsch in Dresden geben. Der Bürgerbewegung „Dresden nazifrei“ wird verboten, zur Blockade der Demo aufzurufen. Das verstoße gegen das Versammlungsrecht und sei Aufruf zu einer Straftat. Soweit so bekannt.

Was ein kleinerer Provinzstreit sein könnte, wird zum Politikum, wenn die Polizei einschreitet, Hausdurchsungen bei Antifaschisten durchführt und dort Computer und Plakate beschlagnahmt. Die Piratenpartei wollte sich zunächst an den Gegendemonstrationen beteiligen, hat aber zurückgerudert: Gegendemos, Mahnwachen usw. ja – strafbare Handlungen wie Blockaden: nein.

Tatsächlich ist es so: Auch der dümmste Nazi genießt das Grundrecht auf Meinungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Es darf ihm nicht genommen werden, und jede Partei, einschließlich der Piratenpartei muss für diese Rechte auch dann eintreten, wenn Nazis sie wahrnehmen wollen.  Klingt schlüssig, aber halt:

Die Gegendemonstrationen in Dresden sind die Proteste von Bürgern gegen eine menschenverachtende Ideologie. Die NPD mit ihren Freizeitnazis und Hinterhofbeführwortern steht gegen so ziemlich alles, was den Piraten und allen anderen demokratischen Parteien heilig ist. Hier geht es nicht darum, ob man den Nazis eine Demo verbietet (denn sie ist ihnen nicht verboten worden), sondern darum, ob wir als Bürger den Nazis klar und deutlich sagen dürfen, was wir von ihnen halten. (Wozu uns übrigens sogar unser Staatsoberhaupt auffordert.) Genau das versucht das Land Sachsen den Dresdnern aber zu verbieten. Wenn das kein Thema für eine Bürgerrechtspartei ist, was bitte dann?

Da bin ich ziemlich enttäuscht, dass sich die Piratenpartei nicht traut, wie die Grünen und die Linkspartei ein wenig Arsch in der Hose zu zeigen und Schönwetter-Poltik macht. Was ist von all den pfiffigen Aktionen im Wahlkampf geblieben? Wo sind die Piraten, die sagen „Hört mal, Blockade ist zu heiß, da kriegen wir ein Problem, aber lasst und mal die und die Aktionen in Dresden durchziehen…“

In meiner Erfahrung ist die Piratenpartei immer noch linksliberal. Es mag sein, dass sich die Partei schlichtweg nicht für das Thema Antifaschismus interessiert. Trotzdem haben die Mitpiraten in Sachsen die Rückdeckung ihrer Partei verdient. Spätestens seit gestern, als das LKA Sachsen die Webseite der Bürgerbewegung hat zensieren lassen, hätte ein Aufschrei durch die Piratenpartei gehen müssen. Wo bleibt die Netzguerilla? Ach so, die ist unterwegs. Leider ohne Piraten. Schade.

Update: In den Kommentaren bei Spreeblick hat ein gewisser Jan ein wunderschönes Monty-Python-Zitat gepostet, das ich Euch ans Herz legen möchte:

“Sie haben Brian verhaftet! Ich habe gehört, dass er gekreuzigt wird!”

“Was? Männer, das erfordert eine sofortige Diskussion!”
“Neuer Antrag?”
“Vollkommen neuer Antrag. Äh, folgender, das, äh, das muss eine sofortige Aktion geben.”
“…wenn der Antrag angenommen wird.”
“Ja selbstverständlich, wenn er angenommen wird, man kann ja nicht einfach so… Also, im Lichte neuer Informationen von Geschwister Judith…”

“Reg, um Himmels Willen, es ist eine ganz einfache Sache: alles, was Ihr tun müsst, ist, durch diese Tür hinaus zu gehen, und zwar jetzt, und zu versuchen, die Römer daran zu hindern, ihn zu kreuzigen! Es wird passieren, Reg, kannst du nicht begreifen, dass es passieren wird?? Raaah!” (stürmt raus)

“Hui, hal-lo, ein kleiner Ego-Trip von den Feministinnen? Oh sorry, würdest du also unsere Punkte bitte nochmal wiederholen?”

Update 2: Ich habe die Überschrift dieses Artikels geändert. Auch wenn die Piratenpartei sich weiterhin offiziell nichts mit einer Blockade zu tun haben wird, sind gerade sehr viele Piraten auf dem Weg nach Dresden, um gemeinsam mit anderen Gruppen, Parteien, Verbänden und der Bevölkerung gegen die Nazis zu demonstrieren.

Aaron Koenig und das Ding mit den Plebisziten (Update)

In einer perfekten Welt stimmen wir einfach über alles demokratisch ab. In einer perfekten Welt haben wir dabei keine Eigeninteressen im Blick, sondern das Allgemeinwohl und vermeiden emotionale Bauchentscheidungen. In einer perfekten Welt sind wir stets informiert genug, eine fundierte Entscheidung zu treffen, wenn wir über etwas abstimmen. Leider leben wir nicht in einer perfekten Welt, und so pulverisiert sich gerade ein Kernstück piratischer Politik: Die Forderung nach möglichst weitgehenden Plebisziten (die neuerdings auch von SPD und Grünen aufgenommen wurde.)

Dass Plebiszite in die Hose gehen können, zeigt wiederholt die Schweiz. Im Mai stimmten die Schweizer dafür, so genannte „Komplementärmedizin“ in der Verfassung zu verankern. Das bedeutet zum Beispiel, dass homöopathische Medikamente, deren Wirkungslosigkeit in zahllosen Studien belegt ist, in Krankenhäusern angewendet und allgemein von den Krankenkasse bezahlt werden sollen. Rationale Entscheidung fürs Allgemeinwohl?

Am gleichen Tag stimmten die Schweizer übrigens dafür, dass künftig biometrische Daten in ihren Personalausweisen gespeichert werden. Dass solche elektronischen Ausweise keinesfalls fälschungssicher sind, eine Reihe von Problemen aufwerfen  und zudem noch enorme Kosten verursachen: War das allen Abstimmenden klar? Rationale Entscheidung fürs Allgemeinwohl?

Rund ein halbes Jahr später: Die Schweiz stimmt ab und ein Verbot, Minarette zu bauen, erhält dadurch Verfassungsrang. Diese Abstimmung hat eine andere Qualität. Sie ist nicht nur gesetzgeberisch blödsinnig, sondern hier diskriminiert eine Mehrheit direkt eine religiöse Minderheit. Felix Neumann hat das bereits so gut auf den Punkt gebracht, dass ich dem auch nichts hinzufügen kann.

Wir lernen: Plebiszite sind problematisch. Sie sind durchaus wünschenswert, bringen die Politik wieder näher an den Bürger, aber sie sind kein Allheilmittel. Demokratie bedeutet nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern die Herrschaft des Volkes. Dazu gehören unantastbare Grundrechte und der Schutz von Minderheiten. Gleichbehandlung vor dem Gesetz würde im Falle der Schweiz zum Beispiel bedeuten, dass ein ebensolches Verbot für die Errichtung von Kirchtürmen in die Verfassung aufzunehmen ist.

Hier hat die Piratenpartei ein Problem: Direkte Demokratie gehört für viele Piraten zu den wichtigsten Grundforderungen überhaupt. Doch wie weit kann die Forderung reichen? Piraten beschweren sich über zahllose Gesetze und Grundgesetzänderungen, die einen Abbau an Bürgerrechten mit sich brachten. Man stelle sich vor, diese Grundgesetzänderungen seien durch Plebiszite zu Stande gekommen: Wer könnte noch etwas gegen sie sagen?

Anders gefragt: Was ist nach Logik der Plebiszit-Anhänger ein Sachargument noch wert gegen den Willen der Mehrheit?

Im Grunde wurde das Problem erkannt: Die Piratenpartei experimentiert gerade mit Liquid Democracy, die eben keine direkte Demokratie ist, sondern die Wahl von Parteien ersetzt durch die Wahl von Experten für Sachthemen. Es gibt also keinen Grund, die direkte Demokratie zur heiligen Parteikuh zu erklären, wo doch schon etwas besseres in Aussicht steht.

Was das ganze mit Stefan „Aaron“ Koenig zu tun hat: Der hat auch über das Thema gebloggt, aber die schweizerische Entscheidung gerechtfertigt:

In der Mehrheitsentscheidung der Schweizer drückt sich vielmehr ein Unbehagen gegen eine politische Bewegung mit Allmachtsanspruch aus, die die Gleichberechtigung der Geschlechter, die pluralistische Gesellschaft und die Demokratie explizit ablehnt. Diese politische Bewegung enthält auch religiöse Elemente und beruft sich daher auf die Religionsfreiheit.

Stefan Koenig gibt also offen zu, dass es um Unbehagen geht. Nun kann man den Islam beim besten Willen nicht als „politische Bewegung“ beschreiben. Das träfe allenfalls auf Islamisten zu. Schließlich sind auch nicht alle Christen Mitglied in der Partei bibeltreuer Christen… Aber vor allem: darf statt Rationalität wirklich Unbehagen eine Rolle spielen, wenn es um eine Gesetzgebung geht, die sich auch noch gegen eine Minderheit richtet?

Zum Glück muss ich mich nicht über meine Partei ärgern: Stefan Koenig bekommt gerade massiv Gegenwind. Das hat ihn zu einem weiteren Blogpost veranlasst, der sich über weite Strecken wie ein Dementi liest. Aber weiter unten schreibt er:

In der Schweiz ging es aber offensichtlich nicht nur um die Bauwerke – dahinter liegt die grundlegende Skepsis, ob eine Religion, die sich selbst „Unterwerfung“ nennt, mit den Werten der Aufklärung kompatibel ist.

Zack. Nochmal Islam-Bashing. Dass „Unterwerfung“ eine sehr freie, kontextlose und entstellende Übersetzung des Wortes „Islam“ ist – geschenkt. Die Frage, wieviel vom weiter oben im Text erwähnten Galileo und der Renaissance überhaupt stattgefunden hätten, wären riesige Teile antiken Wissens nicht ausgerechnet im Orient übers Mittelalter gerettet worden – ebenfalls geschenkt.

Nicht Islamisten, nicht Fundamentalisten, nicht die Al Quaida oder sonstwer, nein der Islam als Ganzes sei mit der Aufklärung nicht kompatibel. In der Welt des Stefan Koenig schließen sich Moslem-sein und Europäer-sein also aus. Das ist nicht bloß Xenophobie, das ist kultureller Chauvinsmus. Unpiratiger geht es nicht.

Update: Als sei das alles nicht genug, schrieb Stefan Koenig noch einen dritten Blogpost:

…die TAZ berichtet, dass es linke, feministische Frauen waren, die mit ihrer Zustimmung zum Schweizer Minarettverbot den Auschlag gegeben haben.

So falsch könne ein Minarettverbot gar nicht sein, wenn doch die Feministinnen auch dafür seien – ein Argument, wenn  man keine Argumente mehr hat. Langsam reicht’s…

Update 2: Er bloggt sich um Kopf und Kragen: Heute Abend legte er den 4. Blogpost zum Thema nach, in dem Stefan „Aaron“ Koenig sich u.a. als ästhetischer Liebhaber von Sakralbauten aller Religionen outet. Das ganze liest sich, als sei alles nur ein großes Missverständnis:

Ebenso wäre es schade, wenn liberale islamische Gemeinden, die die Gleichberechtigung der Geschlechter respektieren und religiöse Schriften, die zur Tötung Andersdenkender aufrufen, als historisch überholt ansehen, keine Moscheen und Minarette mehr bauen dürften.

Doch nicht etwa eine Art Dementi? Zurückgerudert und Ruhe im Karton? Leider nicht, es gibt wie immer einen letzten Absatz:

Ich verstehe den Volksentscheid in der Schweiz, der ja durch Stimmen aus dem linken, feministischen Lager entschieden wurde, als symbolisches Statement für die Werte der Aufklärung und gegen totalitären Fanatismus.

Wir fassen zusammen: Symbolische Statements via Volksentscheid sind für ihn eine prima Sache, wenn sie sich gegen Fundamentalisten richten. Dass dabei eine Minderheit vorverurteilt, diskriminiert und diffamiert wird, während ein paar absolute Rechtsgrundsätze über Bord geworfen werden nur für ein Bisschen Symbolpolitik, scheint einfach keine Rolle zu spielen. Stefan Koenig dementiert weiterhin gar nichts, sondern frisst nur Kreide.

Kleine Analyse des Wahlergebnisses…

…aus Piratensicht:

Die Piratenpartei hat aus dem Stand 2 % geholt. Normalerweise schneiden Kleinparteien bei einer Bundestagswahl wesentlich schlechter ab als bei Europawahlen, dennoch konnten die Piraten ihre Stimmen verdoppeln. Alles Reden von der 5-%-Hürde war von Anfang an utopisch, aber immerhin: Die Piraten holten bei ihrer ersten Bundestagswahl mehr Stimmen als damals die Grünen, und das obwohl die Grünen 1980 über einen breiten Rückhalt in aus vielen Gruppierungen wie Umweltschützern, der Anti-Atomkraft-Bewegung und der Friedensbewegung hatten, während die Piraten heute aus dem viel kleineren Reservoir der Netzaktivisten zehren. Das Ergebnis war ein ein Erfolg für die Piraten und lässt für die Zukunft hoffen.

Was bringt diese Zukunft? Die CDU möchte gerne die Bundeswehr im Innern einsetzen, Sicherheitsgesetze verschärfen, denkt laut über 3-Strikes im Urheberrecht nach und will noch mehr Überwachung. Die FDP ist sehr stark und könnte dem Einhalt gebieten. Die Frage ist, ob sie es auch tut. Ihre Macht als Königsmacher hat die FDP weder in Sachsen noch in Bayern ausgespielt und dort geholfen, den Bayerntrojaner sowie eine stärkere Überwachung des Internet etabliert. Es sieht also alles andere als rosig aus. Eine Fortsetzung dieser Politik dürfte Wasser auf die Mühlen der Piraten sein.

Hat das Wählen der Piraten geschadet? Hätte Schwarz-Gelb verhindert werden können? Das bürgerliche Lager kommt auf 48,4 % während SPD, Linke und Grüne zusammen 45,6% erhielten. Das gesamte Stimmengewicht der Piraten hätte also nicht gereicht, Schwarz-Gelb zu verhindern. Man kann auch nicht sagen, dass die Piraten den Grünen und der FDP übermäßig Stimmen gekostet haben: Beide Parteien haben so gut abgeschnitten, wie noch nie zuvor seit 1949. Interessant ist aber der Blick auf die „sonstigen“: Dort gab es jenseits der Piraten nur wenig Bewegung. Während 2005 die sonstigen Parteien 2005 auf 3,3% kamen, waren es dieses Jahr 6 % (Quelle: Bundeswahlleiter). Es ist unwahrscheinlich, dass die Piraten die 1,5%-Punkte aufgefangen haben, die CDU/CSU verloren haben. Die massiven Verluste der SPD werden evtl zu kleinen Teilen bei den Piraten hängen geblieben sein. Die meisten SPD-Wähler sind jedoch ziemlich sicher zu Grünen oder der Linkspartei gewechselt, wenn sie nicht gleich zuhause geblieben sind. Bis zu 0,1%-Punkte könnten von Republikanern und DVU stammen, was allerdings auch unwahrscheinlich ist. Wie die Wahlergebnisse in Brandenburg und Sachsen, zeigen, haben diese wohl doch eher eine Affinität zum nationalliberalen Flügel der FDP.

Meine Vermutung: Die Piratenpartei hat ganz überwiegend Nichtwähler motiviert, wieder zur Wahlurne zu gehen. Das war auch meine persönliche Erfahrung bei Gesprächen mit einigen Nichtwählern und unpolitischen Menschen in meinem Bekanntenkreis. Ich hoffe stark, dass die Piraten 2013 noch mehr Nichtwähler motivieren können. Dazu müssen sie bekannter werden, vor allem in der Offline-Welt. Das Verfahren gegen Tauss wird hoffentlich Klärung bringen, das Programm wird verbreitert werden. Die Erfolge in den großstädtischen Hochburgen und rund um die Unis deuten an, dass in den nächsten Jahren im ganzen Land Piraten in die Stadtparlamente einziehen werden.

Die Piraten entstanden aus einer Prostesthaltung gegen die Innenpolitik der der letzten Jahre. Im Wahlkampf war deutlich zu spüren, wie stark die latente Wut auf die etablierten Parteien ist.  Bei dieser Wahl stellen die Nichtwähler virtuell die stärkste Fraktion. Dieses Ergebnis war ein Arschtritt erster Klasse für beide Volksparteien, nicht nur für die SPD.

Zur Wählbarkeit der Piratenpartei

Ich hatte ja schon über die Unwählbarkeit der etablierten Parteien geschrieben und die einzige Alternative in der Piratenpartei gesehen. Nun gibt es sehr viele Leute, die die Piraten prinzipiell sympathisch finden, aber zu viele offene Fragen sehen. Ich versuche mal, diese Fragen zu beantworten, auch dort, wo ich mich nicht auf das feststehende Parteiprogramm stützen kann. Dieser Artikel ist meine Sicht, er entspricht meinen persönlichen Erfahrungen mit Piraten und ihren Wählern.

Vielen ist das Programm der Piratenpartei zu schmal. Bürgerrechte schön und gut, aber was ist mit Rente, Finanzkrise oder Afghanistan? Zu vielen wichtigen Politikfeldern gibt es keine offiziellen Aussagen, und das hat auch seine Richtigkeit so. Die Piratenpartei ist gerade erst 3 Jahre alt geworden. 8000 der insgesamt 9000 Mitglieder sind erst in den letzen 4 Monaten in die Partei eingetreten. Nun legt die Partei aber allergrößten Wert darauf, dass ihre Positionen demokratisch gefunden werden. Jeder kann und soll mitreden. Selbst Nicht-Mitglieder oder sogar Mitglieder anderer Parteien dürfen selbstverständlich an den Diskussionen und der Meinungsfindung teilnehmen. Das geschieht in Ortstreffen, in den Mailinglisten und auf dem Wiki. Gruppen können sich zusammenfinden, eine Forderung formulieren und diese dann auf dem nächsten Parteitag zur Abstimmung stellen. Dieses Prinzip ist den Piraten dermaßen wichtig, dass sie darauf verzichten, von der Spitze her das Programm zu erweitern. Unsere Amtsträger haben ihre Meinungen zu vielen Politikfeldern, aber sie werden sich hüten, diese als Parteimeinung hinzustellen, solange nicht klar ist, dass die Partei auch dahinter steht.

Eine solche Meinung soll fundiert sein. Zur Willensbildung gehört, Experten anzuhören. In Sachen Netzpolitik hat die große Koalition ein Veto fast sämtlicher Experten zum „Zugangserschwerungsgesetz“ einfach ignoriert und aus polittaktischen Gründen an der Entscheidung für „Zensursula“ festgehalten. Gerade dagegen wenden sich die Piraten und gerade deshalb werden sie keine unfundierten Forderungen stellen. Sitzen die Piraten im Bundestag, werden sie ihr Abstimmungsverhalten an ihrem Gewissen und ihren Grundsätzen orientieren und sich enthalten, wenn sie der Meinung sind, zu einer Sache vorerst keine Meinung haben zu dürfen.

Diese Grundsätze der Piraten sind übrigens eine solide Basis, um politische Entscheidungen zu treffen. Die Piratenpartei mag noch eine Ein-Themen-Partei sein, aber ihr Thema ist fundamental für fast alle Poltikfelder. Beispiele: In der Sozialpolitik werden die Piraten die unerträgliche Gängelung und Überwachung von Hartz-IV-Empfängern bekämpfen. In der Gesundheitspoltik gilt es, das für den Datenschutz extrem gefährliche, milliardenteure Datengrab Gesundsheitskarte zu verhindern. Bürgerrechte sind auch Arbeitnehmerrechte, das heißt: Piraten werden die Arbeitnehmern nicht nur vor dem Staat sondern auch vor ihren Chefs schützen, wenn es um Überwachung und Rechteabbau geht. Außenpolitisch sind die Piraten jetzt schon bestens vernetzt weil Teil einer internationalen Bewegung. Es ist ausdrückliches Ziel der Piraten, ihre Ziele langfristig auf EU-Ebene und international durchzusetzen. In der Wirtschaftspolitik richten sich die Piraten gegen Patente und (Quasi-)Monopole. Die Macht von Großkonzernen muss beschränkt werden zugunsten kleiner und mittlerer Unternehmen, regionaler Wirtschaft, dezentralen Strukturen. Piraten würden sich energiepolitisch gleichermaßen gegen Kohle- wie gegen Kernkraftwerke engagieren und stattdessen ein Netz von regionalen Kleinkraftwerken unterstützen. Diese Auflistung ließe sich beliebig fortsetzen. Die Forderungen werden nach und nach Eingang ins Parteiprogramm finden.

Eine andere Frage: Sind die Piraten nun links oder rechts? Sie wollen keines von beidem sein und diese Aussage hat durchaus ihre Berechtigung. Der Schutz der Bürgerrechte und freie Bildung sind aus heutiger Sicht konservatives Anliegen, während die Partei in Sachen Open Source, Open Access oder Urheberrecht sehr progressiv sind. In der Wirtschaftspoltik stehen die Piraten mittig: Ja zur sozialen Marktwirtschaft: Sozialistische Anflüge werden ebenso abgelehnt wie neoliberale Deregulierung. Dass sich die Piraten gegen Monopole und für Arbeitnehmerrechte wie zum Beispiel Whistleblower-Schutz und überwachsungsfreie Arbeitsplätze einsetzen, zeigt sehr schön, dass sie nicht Teil der neoliberalen Bewegung sind.

Eine Verortung im Links-Rechts-Schema ist durchaus möglich. Man kann sich im Wiki ein Bild über die Forderungen und Haltungen der Mitglieder machen. Viele Mitglieder füllen dabei gerne einen Fragebogen aus, mit dessen Hilfe die politische Orientierung in einem Koordinatensystem zwischen links und rechts einerseits und autoritär und liberal andererseits anzeigt. Die Fragen sind international formuliert und spiegeln die Geisteshaltung jenseits der deutschen Tagespolitik wider. (Hier ein Beispiel, wie das bei mir aussieht.) Soweit ich sehen konnte, ist die große Mehrheit der Piraten linksliberal eingestellt. Viele mit denen ich gesprochen habe, vermissen den linksliberalen Flügel der FDP, der 1982 verloren gegangen ist, und sehen sich dort in der Nähe. (Natürlich gibt es auch viele Piraten, die das ganz anders sehen, ich glaube aber, die Tendenz ist klar.)

Woher kommen die Piraten? Ganz überwiegend handelt es sich um junge Menschen, die zuvor politisch nicht aktiv waren. Viele standen in der Vergangenheit vor allem den Grünen oder (etwas seltener) der FDP nahe. Interessant ist, dass immer mehr Menschen mit SPD-Hintergrund zu den Piraten stoßen. Eher selten sind Leute aus dem Lager der Linkspartei oder der CDU, was nicht weiter verwunderlich ist, stehen doch beide Parteien für ein eher autoritäres und konservatives Millieu.

Wird das Wählen der Piraten also Schaden anrichten? Mit Sicherheit nicht. Vermutlich werden sie vor allem den Grünen und der FDP ein paar Stimmen kosten. Ziemlich sicher werden viele ehemalige SPD-Wähler dieses mal die Piraten wählen. Das sind allerdings Wähler, die sonst zähneknirschend die Linke oder eher noch: gar nicht mehr gewählt hätten. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass die Piraten viele Protest- und Nichtwähler anziehen, also Stimmen für die Demokratie zurückgewinnen, die sonst verloren gegangen wären.

Wenn sie nun dem linken Lager stimmen kosten, hilft das nicht Schwarz-Gelb? Das ist zu kurz gedacht. Zum einen: Wenn Schwarzgelb die Mehrheit der Stimmen erhält, sollen sie auch regieren. Zum anderen: Erhalten die Piraten (wie ich vermute) Millionen Stimmen, wird das allen etablierten Parteien weh tun. Dies sind Stimmen, die sie hätten haben können, wenn sie eine vernünftige Poltik in Sachen Überwachung, Präventivstaat, Bildung, Internet usw. gemacht hätten. Meine Hoffnung ist, dass dieser Stimmenverlust den etablierten Parteien langfristig so weh tut, dass sie ihre Politik ändern werden – ganz ähnlich wie  die Grünen allein durch ihre Existenz eine halbwegs vernünftige Umweltpolitik der CDU erzwangen. Eine Stimme für die Piraten ist also, egal ob über oder unter der 5%-Hürde, keinesfalls verloren. Verloren ist wirklich nur eine nicht abgegebene Stimme. Sie kommt denen zu Gute, die sowieso schon stark sind.

Und wie war das mit dem braunen Rand? Wie ich schon schrieb: Piraten können gar nicht braun sein, da sie antiautoritär eingestellt sind. §1 der Bundessatzung lautet:

Die Piratenpartei Deutschland (PIRATEN) ist eine Partei im Sinne des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und des Parteiengesetzes. Sie vereinigt Piraten ohne Unterschied der Staatsangehörigkeit, des Standes, der Herkunft, der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung und des Bekenntnisses, die beim Aufbau und Ausbau eines demokratischen Rechtsstaates und einer modernen freiheitlichen Gesellschaftsordnung geprägt vom Geiste sozialer Gerechtigkeit mitwirken wollen. Totalitäre, diktatorische und faschistische Bestrebungen jeder Art lehnt die Piratenpartei Deutschland entschieden ab.

Ich ende nicht mit einer Wahlempfehlung. Natürlich ist völlig klar, dass für mich morgen der Vote-like-a-Pirate-Day ist ;). Was Sie, liebe Leser, wählen, interessiert mich ehrlich gesagt nicht und es geht mich nichts an. Ich habe nur eine Bitte: Gehen Sie überhaupt zur Wahl. Verschenken Sie Ihre Stimme nicht.

Postscriptum: Viele (Piraten-)Wähler haben ein Problem mit der Erststimme. Sie wissen nicht, wen sie wählen sollen. Zunächst mal: Der Wahlzettel ist auch dann gültig, wenn nur die Zweitstimme angekreuzt ist. Das halte ich aber für eine schlechte Idee. Es steht zu befürchten, dass CDU und FDP nicht auf genügend Stimmen kommen, aber dank der Überhangmandate trotzdem regieren können, weil massenhaft CDU-Kandidaten die Erststimme holen. Eine Praxis, die bereits vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft, aber noch nicht geändert wurde. Hier doch eine kleine Wahlempfehlung: Wählen Sie den aussichtsreichsten Nicht-CDU-Kandidaten. Vielleicht hilft es ein wenig, das ganze geradezurücken. Eine Art besserer Wahl-O-Mat, der auch die Kandidaten für die Erststimme berücksicht, finden Sie unter wen-waehlen.de.

Was ich nicht verstehe… (oder: Wen kann man noch wählen?)

Was ich nicht verstehe…

Liebe CDU, christlich seid Ihr schon seit langer Zeit nur noch dem Namen nach. Wollt Ihr auch noch das „D“ in Eurem Namen abschaffen? Oder was versteht Ihr unter Demokratie? Das Überwachen der eigenen Bürger bis hin zum Einsatz der Bundeswehr im innern gegen selbige? Das Stehlen und Überkleben von Wahlplakaten anderer Parteien? Wählertäuschung mittels gelogener Angaben beim Wahl-O-Mat? Eine Erststimmenkampagne um dank eigentlich illegaler verfassungswidriger Überhangmandate gegen den Wählerwillen zu regieren?

Liebe SPD: Lafontaine hin, SED her: Ihr habt ein Programm. Für dieses Programm sollen wir Euch wählen. Es deckt sich so im großen und ganzen mit den Programmen der Grünen und Linkspartei. Unterschiede gibt es eigentlich weniger qualitativ als eher quantitativ: x oder y Millionen Jobs. x oder y € Mindestlohn. Egal, ob ich dieses Programm nun gut finde, eine Frage an Euch: Wenn Ihr es ernst meint mit diesem Programm, warum manövriert Ihr Euch eigentlich in die Koalitionssackgasse? Warum habt ihr das nicht schon 2005 umgesetzt? War es in diesem Wahlkampf nicht doch von Anfang an Euer Plan, in der großen Koalition weiter zu wursteln? Und wenn ja: Was genau ist Euer Wahlprogramm dann eigentlich noch wert? Wäre Wählertäuschung nicht noch ein freundliches Wort für so etwas?

Liebe FDP, ich mag Euch nicht, weil „liberal“ für Euch vor allem die Freiheit der (finanziell) Starken und weniger die der Schwächeren bedeutet. Immerhin gebt Ihr das offen zu. Ihr behauptet aber auch, eine Bürgerrechtspartei zu sein. Wie kann das angehen, dass Ihr trotzdem in Nordrhein-Westfalen eine Internet-Zensur etabliert habt? Dass ihr in Bayern mittels „Bayerntrojaner“ die Computer der Bürger überwachen und kompromittieren wollt? Dass Ihr vor dem Verfassungsgericht gegen das „Zugangserschwerungsgesetz“ AKA „Zensursula“ klagen wollt – aber nur, falls Ihr nicht an die Macht kommen solltet? Dass Ihr jetzt schon schärfere Sicherheitsgesetze zusammen mit der CDU plant? Oder gerade in Sachsen anfangt, das Internet schärfer zu überwachen? Meint Ihr, da seien die Worte „liberal“ und „Bürgerrechte“ noch entfernt glaubwürdig? Ich bitte Euch!

Liebe Grüne: Ihr habt eigentlich ein ganz gutes Programm. Schade nur, dass alles jenseits der Umweltpoltik bei Euch klingt, als sei es von der SPD oder der Linkspartei abgeschrieben. Aber egal: Was ist das Programm wert, wenn Euch nichtmal Eure Kernforderungen heilig sind? Was sind Pazifisten wert, die auf Zuruf doch mal eben Soldaten in den Kosovo oder nach Asien schicken? Was sind Umweltschützer wert, denen Macht und Posten in Hamburg wichtiger sind als das Nein zum Kohlekraftwerk in Moorburg und das Nein zur Elbvertiefung – im Tausch gegen eine neue Straßenbahnlinie und eine verwässerte Schulreform, die keine zwei Legislaturperioden überleben wird?

Liebe Linkspartei: In welcher Realität lebt Ihr? Reichtum für alle und Reichtum besteuern zugleich? Und wenn Ihr dann doch regiert, wie in Berlin, weiß kein Mensch mehr, wofür Ihr eigentlich steht, weil ihr dort von der SPD nicht zu unterscheiden seid…

Alle ihr Parteien zusammen: Ich sehe Euch allesamt in einer Krise, in der uns die Demokratie um die Ohren fliegen könnte, wenn ihr so weitermacht. Wenn Ihr erneut den Wählerwillen ignoriert und eine schwarzgelbe De-facto-Minderheitsregierung oder eine erneute schwarz-rote Sowohl-als-auch-Koalition gründet. Ihr werdet erleben, wie die Wahlbeteiligung in ungeahnte Tiefen fällt. Ihr werdet erleben, wie sich noch viel mehr Bürger als sowieso schon von Euch abwenden werden. Bürger die frustriert wie freie Radikale agieren und nur noch daran denken werden, was für sie und ihresgleiches wichtig ist. Ich kann Euch alle miteinander nicht mehr wählen. So gerne ich möchte, aber es geht nicht. Wenn dann die Frage nur noch lautet: Nicht wählen, oder Piratenpartei, dann ist die Antwort ziemlich klar.

Piratenabenteuer: Die Durchwatung des braunen Sumpfes

Eigentlich wollte ich mich ja momentan aus einer Reihe von Gründen mit politischen Artikeln zurückhalten. Eigentlich…

Was ist passiert? Vizevorsitzender der Piratenpartei, Andreas Popp, gibt der rechtskonservativen (bisweilen auch rechtsradikalen) „Jungen Freiheit“ ein Interview. In diesem Interview sagt er klar, was er von Rechtsextremismus hält: Gar nichts. Sagt klar, mit wem er keinesfalls koalieren würde: rechten Parteien.

Darauf folgte ein klassischer Shitstorm: Mit denen reden? Wie kann man nur? Es führte dazu, dass Andreas Popp sich für das Interview entschuldigte und Bundesvorsitzender Jens Seipenbusch ihn in Schutz nahm, mit dem nicht ganz abwegigen Argument

Wenn wir diese Menschen nicht für würdig befinden, mit ihnen über Politik zu reden, dann geben wir sie verloren. Wenn wir sie zurückholen wollen ins demokratische Spektrum, dann müssen wir mit ihnen reden, ihnen klarmachen, warum die rechte Ideologie menschenfeindlich ist. Sie zu verachten, sich von ihnen zu distanzieren, mag den Linken dabei helfen, ihre eigene Identität zu definieren – in der angesprochenen Sache ist es eher schädlich.

Zum einen: Das Interview mit der Jungen Freiheit war ganz klar ein Griff ins Klo. Das Blatt versucht, mit unverfänglichen Interview-Partnern den Eindruck zu erwecken, nicht rechtsradikal zu sein. Wer diesem Blatt ein Interview gibt, hilft ihnen dabei. Wäre ich Amtsträger, ich hätte ein Interview verweigert. Alles andere ist politisch naiv.

Aber genau diese politische Naivität ist es, die mich begeistert. Da erdreisten sich doch die Piraten, einfach nicht mitzumachen, wenn es darum geht, zu definieren, was politisch korrekt ist, und was nicht. Wie Mspro richtig erkannt hat, hat die Piratenpartei kulturell überhaupt nichts mit der alten linken, mit Beißreflexen, Palituch und Antifa zu tun.

Die Piratenpartei ist Ausdruck eines Zeitgeistes, der um die Jahrtausendwende Gestalt annahm, als sogar junge Menschen plötzlich wieder CDU wählten, ohne sich zu schämen, weil sie die Rituale als reine Pose durchschauten. Ein Zeitgeist, der sich müde und desinteressiert von alten politischen Grabenkämpfen zwischen Links und Rechts abwendet, weil diese Grabenkämpfe nichts mit seiner Lebensrealität zu tun haben. Ein Zeitgeist, der sich stattdessen bei Attac oder im CCC manifestiert, weil die etablierten Parteien nur noch als irrelevant angesehen werden. Pragmatik geht vor Ideologie. Deshalb will die Piratenpartei weder links noch rechts sein.

Die Naivität der Piraten ergibt sich aus ihrer Unschuld. Sie haben keine Angst davor, mit rechten Medien zu reden, weil es für sie außer Zweifel steht, dass sie selbst nicht rechts sind. Rechtes, autoritäres, völkisches, rassistisches, homophobes usw. Denken ist den Piraten schlicht und ergreifend fremd. Solches Denken passt nicht in die Welt des „jeder mit jedem“ und „jeder nach seiner Fasson“. Piraten werden niemals eine autoritäre (also rechte) Politik gutheißen, weil sie selber eine Bewegung sind, die sich gegen Versuche wehrt, ihren Lebensraum autoritär zu reglementieren. So konnte auch die Gender-Debatte nicht verfangen: Piraten haben etwas gegen Feminismus, weil sie niemals auf die Idee kämen, frauenfeindlich zu sein und gedanklich schon längst im Postfeminismus angekommen sind, der einfach nur jeden Menschen unabhängig vom Geschlecht betrachten will.

Ein wesentlicher Bestandteil der piratischen Ideologie ist, Ideologien als solche abzulehnen. Das ist Dekonstruktion in reinstform. Moderner geht es nicht.

Aber zum braunen Sumpf: Wenn ich etwas in meiner Zeit in Sachsen gelernt habe, dann dass man die NPD-Wähler nicht mit Nazis gleichsetzen darf. Darunter sind äußerst viele Menschen, die vom politischen Spektrum enttäuscht sind. Die Protest wählen oder gar den Parolen der Rattenfänger glauben. Natürlich ist es ein äußerst schwieriges Unterfangen, diesen Menschen mit reiner Aufklärung begegnen zu wollen. Aber wie Jens Seipenbusch schon schrieb: Es nicht zu tun, hieße diese Menschen aufzugeben.

Sollen die Piraten in der Genderdebatte einen feministischen Standpunkt einnehmen? Rechtsradikalen gegenüber die Rituale der Kontaktverbote einhalten? Sollen sie sich auch in allen anderen Fragen nach dem politischen Mainstream der etablierten Parteien richten? Was bliebe dann noch übrigen für die Piraten? Welche Existenzberechtigung hätte die dadurch entstandene Grünliberalsozialchristdemokratische Linkspartei?

Man sollte den Shitstorm, der gerade läuft, als das sehen, was er ist: Als Kampagne der politischen Gegner unter Ausnutzung eines Verstoßes gegen die Political Correctness.