Kategorie: Blog

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  • Es werde Musik!

    Zwei Wochen nachdem auch auf der linken Seite das Cochlea-Implantat angeschaltet wurde, ist meine Stimmung leicht mau. Alles ist zu leise, auf der Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung in Pankow verstehe ich weniger als erwartet und allgemein hört sich alles elektrisch an. Dafür aber endlich Richtungshören. Das linke Ohr reagiert anders als das rechte auf das CI, nämlich mit einem heftigen Tinnitus, der aber verschwindet, sobald ich das CI aufsetze und einschalte. Wahrscheinlich muss sich der Hörnerv aber noch an die elektrische Reizung gewöhnen. Davon abgesehen entwickelt sich das Hören auf der linken Seite extrem schnell. Es ist immer noch ziemlich vom „Wling“ unterlegt und Menschen klingen, als hätten sie Helium inhaliert, die Entwicklung ist aber viel schneller und schon jetzt verstehe ich mit beiden CIs viel besser als zuvor mit Hörgeräten.

    Beim Anpassungstermin hatten wir dann nochmal beide Seiten vorgenommen und erneut komplett durchgespielt: Wann höre ich einen Ton, wann ist er laut, sind Ton 1 und Ton 2 gleich laut usw. Da floss mit ein, dass ich sagte, alles sei insgesamt zu leise. Am Schluss machte mein Audiologe noch ein Hinweis: Der Prozessor ist so eingestellt, dass laute Geräusche automatisch runtergepegelt werden. In dem Moment fiel bei mir der Groschen. Warum ich Musik oder Filme viel zu laut mache. Warum ich beim Heavy Metal Bäcker nicht mehr richtig bestellen kann. Warum die heißgeliebte Morgenstimmung von Grieg eine indifferente Pampe ist und Metallicas Creeping Death wie Scooter klingt. Ich dachte, die Dynamik sei futsch, weil das CI nur bis zu 10 Elektroden im Ohr gleichzeitig befeuert, und versuchte mich schon gedanklich an ein Leben zwischen Depeche Mode und Sebastien Tellier zu gewöhnen. Ganz falsch.

    Ich insistierte also, er möge das bitte jetzt sofort machen und mir auf das sonst nicht benötigte Programm 2 legen. Der Sprachprozessor des CI hat nämlich 4 Programme, die per Fernbedienung oder etwas fummelig über die mehrfach belegten Tasten am CI umgeschaltet werden können. Bei mir sind das jetzt 1: „Alltag mit Runterpegeln“, 2: jetzt „Alltag ohne Runterpegeln“, 3: „Fokus in lauter Umgebung“ (eine Art Richtmikrofon und mein akustisches Killerfeature in Kneipen und lauter Umgebung) und 4: „Musik“ (lässt alles möglichst ungefiltert durch, klingt aber furchtbar und hat noch immer sehr viel „Wling“).

    Wieder zu Hause habe ich mir zuerst die Tagesschau im Web ohne Untertitel angesehen (alles bestens verstanden) dann eine ganze Weile Musik gehört und wurde dabei immer euphorischer. Ja, der Sound ist noch künstlich, elektrisch und Sänger klingen übers linke Ohr leicht albern, aber plötzlich war alles da und ich konnte die Musik (zumindest rechts) präzise und kristallklar wahrnehmen. Die Sonne hebt sich bei Grieg wieder langsam und majestätisch über den Horizont. Der Lautsprecher will nach den ersten Takten Akustikgitarre in Saxons „Crusader“ wieder aus der Box fallen. Und die zweite Hälfte von Metallicas „One“ ist wieder Stakkato statt Matschepampe. Und das wichtigste: Wenn man aufdreht wird es auch laut.

    Ganz allgemein kann ich nun auch über Lautsprecher viel besser hören, ohne das CI an einen Kopfhörerausgang anzuschließen, was sonst eigentlich nötig war, wenn ich mir ein Video ohne Untertitel ansehen wollte. Auf Twitter schrieb ich später: „Da ändert man eine winzige Detaileinstellung im #CI und es ändert sich alles. Geil. Noch ein wenig testen, dann gibts ein Update im Blog.“ und später „(Höre Grieg und überlege, ob mein Audiologe ein Gott oder ein Idiot ist.)“ und meinte damit, dass ich diese spezielle Einstellung doch schon viel eher hätte haben können, aber über die neuerliche Verbesserung viel zu glücklich bin, um mich zu beklagen.

    Was habe ich seither getan: Viel Musik aller Art gehört und auch genossen; mich in einem Bus und in der Tram sowie an einer lauten Straße unterhalten, teilweise ohne die Person anzusehen, sowie zu viert in der S-Bahn dasselbe; Jan-Uwe Fitz beim Vorlesen aus „Entschuldigen Sie meine Störung“ zugehört und endlich auch seine kleinen Späßchen zwischendurch verstanden; ein Kneipengespräch im Übereck (ruhig); FC St. Pauli gegen Hansa Rostock im Oberbaum-Eck gucken und dabei durchaus ein wenig mit den Leuten reden (alles andere als ruhig); verstehen, was jemand im Nebenzimmer laut zu mir sagt. Letzteres war wohl ungefähr das erste mal seit 1988 oder so.

    Was ich mit der neuen Einstellung noch nicht gemacht habe: Beim Heavy Metal Bäcker frühstücken, telefonieren, in einen Club oder auf ein Konzert gehen und eine BVV-Sitzung besuchen. Aber morgen beginnt ja eine neue Woche.

  • Links der Woche

    • Ein deutscher Bezirk: Wo die braven Leute wohnen:Bevor Grebe also zu singen anhob, fragte er noch einmal ins Publikum, ob hier jemand aus dem Prenzlauer Berg sei? Eine Kollegin, die das Konzert besuchte, hob – todesmutig, wie man im Nachhinein sagen könnte – die Hand. Mit ihr zusammen tat das noch genau eine andere Frau. Eine einzige! Und die ganze Waldbühne begann daraufhin, die beiden auszubuhen. Natürlich wohnt auch Rainald Grebe selbst im Prenzlauer Berg. Wo sonst?

    • EsoWatch » Freie Waldorfschule Kempten: Ein ehemaliger Schüler berichtet:Während der Zeit in der ich an der Schule war habe ich sehr viel Schrott gelernt. Geschichten von Atlantis, wo es schwebende Menschen gegeben haben soll, wurden im Geschichtsunterricht erzählt. Auch nordische Götter wie Odin, Thor usw. nahmen viel Raum ein in den ersten Jahren. Eurythmie hatte ich natürlich auch. Selbst in der 11. Klasse wurde uns beigebracht, dass es keine Elektronen gäbe.

    • „Datenschutz greift nicht mehr“:Entweder ich sage, ich möchte das Konzept Datenschutz bewahren, weil mir etwas liegt an der informationellen Selbstbestimmung des Individuums. Oder ich sage, ich werfe das über Bord und kämpfe für eine meinetwegen positive Utopie – dafür, dass wir uns alle transparent machen können, ohne dass dies zu Diskriminierungen führt. Tut mir leid, dass ich prinzipiell nicht der Meinung bin, dass wir – schon gar nicht auf die Schnelle – aus dieser Gesellschaft eine hierarchiefreie, von Machtinteressen befreite Gesellschaft machen können.

    • Charles Mingus Cat Toilet Training Program:Don’t be surprised if you hear the toilet flush in the middle of the night. A cat can learn how to do it, spurred on by his instinct to cover up. His main thing is to cover up. If he hits the flush knob accidentally and sees that it cleans the bowl inside, he may remember and do it intentionally.

    • Die große heilige Inquisition vs. Schockwellenreiter (2):Es gibt Neues zu berichten in der Sache »Die große heilige Inquisition vs. Schockwellenreiter«: Ich habe es nicht geglaubt, aber die Berliner Staatsan­walt­schaft hat tatsächlich eine Anklage erhoben, sie flatterte mir an diesem Wochenende ins Haus. Aufgrund eines mittelalterlich anmutenden Paragraphen, des Gotteslästerungsparagraphen, der laut einem Bericht der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen aus dem Jahre 2011 »mit den allgemeinen Menschenrechtsstandards inkompatibel« ist.

    • Eurokrise: Und vergib uns unsere Schulden:Die Anthropologie weiß längst, dass die auf Adam Smith zurückgehende Geschichte ökonomischen Handelns eine Fiktion ist. Noch heute glauben wir, es habe erst den Tauschhandel gegeben, der dann, aus Gründen der Bequemlichkeit, von Geld abgelöst worden ist. Dafür, so Graeber, gibt es keine einzige Quelle. Er unterscheidet recht wirkungsvoll zwischen „kommerziellen Ökonomien” und „menschlichen Ökonomien”. Tatsächlich beginnt die Geschichte der menschlichen Ökonomie mit Krediten und ohne Geld. (…) Erst als Geld zur Sache wurde und schließlich zu einer creatio ex nihilo, die den Wert aus sich selber schafft, begann es, massiv soziale Beziehungen zu korrumpieren.

  • Links der Woche

    • Nicht das Urheberrecht ist das Kernthema:Erstens werden die Piraten das Problem nicht lösen, genau wie keine andere politische Partei das tun wird, weil es so nicht geht. Denn zweitens ist das Urheberrecht nicht das Problem – wenn man Lena Falkenhagen oder sonst eine Person ein neues Urheberrecht schreiben ließe und es in ein Gesetz gösse – es würde nichts ändern. Denn das Problem ist nicht das Recht, das Problem ist der durch das Internet bewirkte Strukturwandel. Während die Industriealisierung millionenfach manuelle, repetetive, gefährliche und langweilige Arbeit weg rationalisiert hat, bewirkt das Internet auf eine ganz andere Weise ähnliches bei den Kopfarbeitern und Kreativen.

    • Lieb mit Ferkeln:Cengiz ist der Freundliche-Mensch-Mann. Eines Tages tritt er bei LIDL vorm Käse-Regal auf mich zu, breitet die Arme aus, blinzelt mich forschend aus seinen dreiviertelblinden, spülwasserfarbenen Augen an, die hinter den glasbausteindicken Brillengläsern kaum zu ahnen sind, und streckt mir die Hand entgegen. Seine Brillenbügel sind mit Tesafilm geflickt, was ihm eine nonchalant verwegene Note verleiht. Sein Händedruck ist fest und bestimmt. – „Sie sind gutte-freundliche Mensch!“

    • Wenn Sprache behindert:Journalisten_innen neigen dazu, die Extreme einer Person beziehungsweise einer Geschichte hervorzuheben und zu überhöhen. Dann überstrahlt das schwere „Schicksal“ des „Sorgenkinds“, alles, was diesen Menschen über seine Behinderung hinaus auszeichnen könnte. Das andere Extrem ist der „Superkrüppel“, jener Mensch, der seine Behinderung offenbar „überwunden“ hat, den Mount Everest mit seinem Rollstuhl erklimmt, und als Held gefeiert wird. Wenn jemand etwas „trotz“ statt „mit“ seiner Behinderung schafft, dann ist es sofort eine besondere Leistung. Dabei liegt doch die Wahrheit, wenn wir ehrlich sind, höchstwahrscheinlich in der Mitte. Aber warum sehen wir sie nicht? Wo bleiben die blinde Kassiererin, der Erzieher mit Down- Syndrom oder die Bankangestellte im Rollstuhl?

    • Nostalgie ist was für Pussies:Menschen, die zu Kindern sagen, “Genieß die Zeit, es ist die schönste deines Lebens.” sind nur Menschen, die nicht die Chuzpe haben, die Freiheit, die sich ihnen nun bietet, auch zu nutzen. Sich in eine Zeit zurück zu wünschen, in der man abhängig war, unselbstständig und unemanzipiert, bedeutet nicht, dass man nostalgisch ist. Es bedeutet nur, dass man feige ist.

  • Ohr 2 angeknipst: endlich wieder stereo

    Heute wurde nach vier Wochen Stille mein linkes Ohr angeknipst. Auch dort also jetzt ein Cochlea-Implantat. Bevor es soweit war, haben wir mein rechtes Ohr getestet, auf dem ich seit einem halben Jahr ein CI trage. Eher enttäuschend: Beim Freiburger Sprachverständnistest erziele ich immer noch 65% wie vor vier Monaten. Es ist, als hätte ich seitdem keine Fortschritte gemacht, was nicht sein kann, da ich mittlerweile durchaus telefoniere. Eher ist es so, als ob die beiden letzten Anpassungen Verschlimmbesserungen waren. Wir haben das rechte Ohr dann auf den Stand von Juli programmiert und subjektiv hatte ich sofort das Gefühl, besser zu hören. To be continued.

    Außerordentlich ermunternd hingegen das Ergebnis des Oldenburger Sprachverständnis-Test. Dabei muss man sinnlose Sätze in verschiedenen Lautstärken und teilweise unter Störschall nachsprechen. Gemessen wird, um wieviel etwas lauter sein muss, dass ich es verstehe. Auf einer Skala bis 100 dB erreiche ich sehr gute 2,8 dB. (Normalhörende erzielen Ergebnisse von -10 dB). Das ist ein für Cochlea-Implantate wirklich gutes Ergebnis.

    Am Ende haben wir dann das linke Ohr „eingeschaltet“. Frappierend: Ich war sofort in der Lage, Sprache zu verstehen, wofür ich beim ersten Implantat noch Wochen gebraucht hatte. Allerdings ist auch das „Wling„-Geräusch wieder da und alles klingt seltsam. Das Telefon blubbert eher als dass es klingelt. Da heißt es jetzt wieder und weiterhin hin: Eingewöhnen, hören lernen. Im Frühjahr bis Sommer 2012 werde ich wohl das erzielbare Optimum erreichen.

  • Spaß mit Pages: Google+ pseudonym und anonym verwenden

    Gestern Abend verbreitete sich die Nachricht, dass Google+ nun endlich analog zu Facebook auch „Pages“ unterstützt, die keinem Klarnamenszwang mehr unterliegen. Damit kann man dann auch GooglePlus-Accounts für Blogs, Firmen und Organisationen unter passendem Namen anlegen – oder Google+ anonym verwenden. So einer Page sieht man (bisher) nicht an, wer sie angelegt hat. Falls sich das mal ändert und auch damit Google die Verbindung zwischen Pseudonym und bürgerlicher Identität nicht ziehen kann, richtet man sich halt einen Fake-Account unter unter echt klingendem Namen der Sorte „Michael Meier“ an und von dort aus dann die Page mit dem Lieblingspseudonym.

    Ich habe keine Ahnung, ob das schon das neulich angekündigte Pseudonym-Feature ist oder ob es noch kommt. Als Hack erfüllt das ganze seinen Zweck und könnte ähnlich wie bei Facebook einen Trend einleiten: Social Bigotry. Schließlich muss Google seine Policy nicht ändern und kann die Klarnamennazis weiterhin zufrieden stellen, andererseits existiert ein gangbarer Hack, Google+ pseudonym und sogar hinreichend anonym zu nutzen. Ein Bisschen wie bei Facebook, wo Pseudonyme offiziell nicht erlaubt sind, aber massenhaft toleriert und dann doch immer mal wieder gesperrt werden.

    Witz am Rande: Meine neue GooglePlus-Page „Die Ennomane“ habe ich von meinem wegen Pseudonymnutzung gesperrten Account aus angelegt. Einfach so. Dafür sperrt Google mich monatelang aus und nimmt das ganze miese Pseudonymdebattenkarma auf sich? Bleibt nur noch das Problem: Wie kriege ich die rund 4600 Follower des alten Accounts dazu, dem neuen Account zu folgen?

  • Links der Woche

    • Der griechische Weg: Demokratie ist Ramsch:Es wird immer klarer, dass das, was Europa im Augenblick erlebt, keine Episode ist, sondern ein Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen.

  • Twitter im Oktober

    Zum Nachfaven bitte draufklicken.

     

  • Die können ja nicht mit Geld umgehen!

    Für meine Oma waren es die Sozialdemokraten, die nicht mit Geld umgehen konnten. Früher war das lange Zeit „der Staat“ und heute neigen viele eher dazu zu sagen, „die Märkte“ können nicht mit Geld umgehen. Vielleicht sollten wir langsam mal verstehen, dass das Argument, irgendwer oder irgendwas könne nicht mit Geld umgehen, grundsätzlich Unfug ist?

    Es sind immer irgendwelche ganz konkreten Leute, die nicht mit Geld umgehen können. Die Versuchung ist immer da groß, wo viel Geld vorhanden ist und Schwund scheinbar niemandem weh tut. Es ist dabei vollkommen egal, ob es sich um den Staat oder einen Konzern handelt. Dass man nicht privatisieren/verstaatlichen dürfe, weil irgendwer nicht mit Geld umgehen könne, ist dämliche Stammtisch-Rhetorik, egal ob man nun für Privatisierungen oder Verstaatlichungen ist.

    Vielmehr ist das Ganze ein Argument dafür, dass wir ganz dringend mehr Transparenz brauchen. Und zwar auf staatlicher Seite und in den Konzernen gleichermaßen. Damit beide künftig besser mit dem Geld umgehen, das wir ihnen – so oder so – geben.

  • Links der Woche

    • Wir sind Zombies:Weil nach Marcus Leaning von der University of Winchester der Zombie-Kult auch in Büchern, etwa in Form von ironischen Zombie-Überlebensratgebern, und selbst als Zombie-Gartenzwerge so verbreitet ist, wird man hier erstmals auch einen Kurs über das Phänomen anbieten.

    • Auf der Straße zur Ironie-Hölle:…zwei postmoderne Phänomene: das der Fremdscham und der Ironie. Anhand von Casting- und Kuppelshows, von “Bad Taste”-Partys und “Bravo Hits” verhandelt sie das Zelebrieren von Dingen, die man eigentlich verabscheut. Die Überschrift “Wenn Ironie zum Zwang wird” verknappt den sehr lesenswerten Artikel leider etwas, denn tatsächlich geht es hier um zwei Phänomene mit ähnlichen Symptomen und einer gewissen Schnittmenge.

    • #om11 Nachtrag: Utopie und Schutzraum:Bei mir bewirkte die Session aber das Gegenteil. Denn das, was ich dort jeweils erlebte, führte mir nicht in erster Linie die Macht der radikalen Transparenz vor Augen, sondern im Gegenteil – die Macht des Schutzraumes.

    • Netzdiskurs: Das Elend der Internetintellektuellen:Jarvis, der sein eigenes Bedürfnis nach dem Schutz seiner Privatsphäre so aufwendig rechtfertigt, indem er es auf andere Güter und Werte zurückführt, möchte nicht, dass auch andere dieses Privileg mit ihm teilen. Eine ähnliche Verwirrung kennzeichnet seinen Umgang mit Finnland. Er erwähnt es zweimal: Zuerst erzählt er uns, dass es finnischen Unternehmen verboten ist, Bewerber bei Stellenausschreibungen zu googlen, und dann sinniert er über die Tatsache, dass in Finnland jedermanns Einkommenszahlen online zugänglich sind. Die letztgenannte Praxis ist ihm ein Rätsel, und er führt sie auf lokale Normen und die finnische Kultur zurück, wobei er betont, dass die Kultur, in der er lebt, solche Normen nicht billigt. (“Wenn es ums Geld geht, halte ich mich an kulturelle Konventionen…; hier bin ich nicht hundertprozentig öffentlich.“)

    • Christopher Lauer: Der Spiegel über unsere “Lustreise”:Ich bin gegenüber der Presse sehr offen und mache mich dadurch angreifbar. Ich bin aber so offen weil ich mir wünsche, dass dieser Vertrauensvorschuss als solcher geschätzt wird und Verhalten und Gesprochenes im Kontext gesehen wird. Die Presse hat genausowenig Bock auf abgelutschte Sprachregelungen wie wir. Berichterstattung wie diese führt aber dazu, dass man zur Skandalvermeidung nur noch das sagen wird, was eben nicht skandalisierbar ist. Es wird darüber geklagt, dass Politik und Politiker so weit entfernt vom Geschehen wären und den Kontakt zur Außenwelt verloren hätten. Wie soll ich denn jemanden an meinen Erfahrungen teilhaben lassen, wenn versucht wird, selbst aus einem korrekt abgelehnten Antrag eines Bezirksverordneten eine Affäre zu basteln?

    • Magisterarbeit jetzt online: Liquid Democracy in der Piratenpartei:Mit großer Freude kann ich Euch heute meine Magisterarbeit mit dem Titel “Liquid Democracy in der Piratenpartei – Eine neue Chance für innerparteiliche Demokratie im 21. Jahrhundert?” zum Download anbieten. Insgesamt habe ich mich rund acht Monate mich mit dem Thema Liquid Democracy in der Piratenpartei beschäftigt. Die Arbeit ist aber nicht nur die Zusammenfassung aller Einzeltexte dieses Blogs, sondern geht auf über 160 Seiten stark ins Detail.

  • Schnauze, Schmidt!

    Helmut Schmidt toll finden ist einer der großen gemeinsamen Nenner unserer Zeit. Schmidt ist bis heute der Kanzler der Herzen, politisch dahin gemeuchelt auf dem Höhepunkt seiner Regierungszeit, ausgerechnet von Birne, der Witzfigur der 80er Jahre. Für meine Generation ist er eine Kindheitserinnerung wie Captain Future und „Moskau“ von Dschinghis Kahn – irgendwie auch heute noch cool, etwas peinlich aber aus einer Zeit, wo wir noch Gut (Schmidt) und Böse (Kohl) auseinander halten konnten und alles seine Richtigkeit hatte.

    Am 6. März 1983 gab es Neuwahlen. Das Datum weiß ich bis heute auswendig. Ich war 9 Jahre alt, durfte bis in die Puppen aufbleiben, lernte viel über Prozente und Sitzverteilung und wartete ungeduldig auf OTTO!!!, der für den Abend angekündigt war. Das konstruktive Misstrauensvotum gegen Schmidt und die Neuwahlen ein paar Monate später waren das erste, was ich politisch bewusst wahrgenommen habe, auch wenn ich in meiner kindlichen Weltsicht im Verrat der FDP an der guten Sache einen Akt reiner Bosheit sah.

    Vielen geht es ähnlich und viele verklären die Jahre zu einer goldenen Zeit, in der die Promis in Talkshows nur scheinbar klüger redeten als heute, dafür aber viel und öffentlich rauchten. Der Krisenmanager der Sturmflut von 1962 gehört nicht nur in dieselbe Ära wie Loriot, sondern ist auch ähnlich sakrosankt, was sein öffentliches Ansehen betrifft. Warum eigentlich? Dass Schmidt zur Katastrophenbekämpfung die Bundeswehr für Hilfsdienste im Innern einsetzte, wäre heute legal, war aber damals ein Verfassungsbruch, für den man Helmut Schmidt angesichts der Notlage freilich nicht verurteilen mag.

    Schmidt tröstet. Wenn Ronald „Ich kann Deine Fresse nicht mehr sehen“ Pofalla zu Wolfgang Bosbach über das Grundgesetz sagt „Lass mich mit so einer Scheiße in Ruhe.“, ist das zwar – gerade auch wegen des Anlasses (Fraktionszwang) – vulgär, aber dank Schmidt Schnauze eben nicht wirklich neu und kein Grund zur Beunruhigung. 1958 warf die SPD Schmidt aus dem Fraktionsvorstand, weil der pflichtbewusste Militarist, der bis 1945 seinem damaligen Führer noch als Oberleutnant diente, lieber als Hauptmann der Reserve an einer Wehrübung teilnahm statt an den Fraktionssitzungen. 16 Jahre später erlaubte man ihm das Regieren und er sorgte via Nato-Doppelbeschluss dafür, dass atomare Kurz- und Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert wurden, deren Einsatz nicht nur Polen und die DDR sondern auch gleich noch die westliche Hälfte Deutschlands unbewohnbar gemacht hätte, ohne dass es dafür noch eines sowjetischen Gegenschlages bedurfte. Die einst friedensbewegten Grünen schuldeten ihrem Geburtshelfer viel Dankbarkeit.

    Aber das war damals – wo steht er eigentlich heute? Und so als Ökonom? Der alte Keynesianer, der in den 70ern gesagt haben soll, ihm seien 7% Inflation lieber als 7% Arbeitslosigkeit, hat sich um 180 Grad gedreht. Er steht voll hinter der neoliberalen Agendapolitik Schröders. Ginge es nach Helmut Schmidt, wäre der Hartz-4-Satz zu senken, zumindest aber auf Jahre hinaus einzufrieren und der Kündigungsschutz weiter zu lockern, natürlich nicht ohne die Wochen- und Lebensarbeitszeit ohne Ausgleich zu erhöhen. Dass im so geschaffenen Niedriglohnsektor keiner mehr vom Einkommen seines Jobs leben kann, stört das Urgestein der Sozialdemokratie nicht. Immerhin wäre er für einen (niedrigen) Mindestlohn – aber erst wenn den Flächentarifverträgen auch in ihren letzten Nischen der Garaus gemacht wird und Gewerkschaften keinerlei Einfluss mehr haben.

    Da ist es nur folgerichtig, dass der autoritäre Parteipatriarch ein ebenso neoliberales Überbleibsel der Agendapoltik in einer unwürdigen Buchvermarktungsveranstaltung zum Kanzlerkandidaten krönt, kurz nachdem die SPD alle Ambitionen hat fahren lassen, so etwas wie Vorwahlen nach amerikanischem Vorbild durchzuführen. Bloß nicht mehr Demokratie wagen! Die SPD hat jetzt die Wahl zwischen Steinbrück und Steinmeier – und das soll die lang erwartete Antwort der Sozialdemokratie auf immer drastischere Umverteilung von unten nach oben sein? Auf Finanzkrise, Kapitalismusversagen und OccupyWallstreet?

    Wenn ich verschiedene Texte von und über Helmut Schmidt so lese, bin ich geradezu bestürzt, in wie wenig Punkten ich mit dem einst verehrten Helden meiner politischen Kindheit eigentlich übereinstimme. Die multikulturelle Gesellschaft empfindet er als Illusion und bereitet so den Sarrazins in der SPD ihren Nährboden. Den Klimawandel habe es schon immer gegeben, die Debatte sei hysterisch und all die Wissenschaftler und Klimaforscher haben vermutlich einfach keine Ahnung. Das Verfassungsgericht möge sich künftig doch bitte ein wenig mehr zurückhalten und mit seinen Urteilen dem Kanzler weniger dreinregieren. Ach ja: wählen sollte man auch besser erst mit 21 statt schon mit 18 dürfen. Und wer Visionen habe, müsse zum Arzt gehen. Gerade der letzte Satz steht für das Ende von Poltik und den Anfang der Postdemokratie und ist ein Symbol für die Ursachen heutiger Parteienverdrossenheit.

    Bleibt noch die schnarrende Schneidigkeit des alten Haudegens, seine Aufrichtigkeit und Prinzipientreue. Den Menschenrechten stellt er eine allgemeine Erklärung der Menschenpflichten gegenüber, die sich allesamt ehrbar lesen. Sie leiten sich aus dem kategorischen Imperativ ab, der Ehrfurcht vor dem Leben und der Ehrfurcht vor den Rechten unserer Mitmenschen. Über diese Deklaration musste ich sehr lachen, habe ich doch beim Lesen das Bild des halstarrigen Greises vor Augen, der seine Umgebung zum Passivrauchen zwingt.

    Da wird klar, dass die SPD sich nicht erst unter Schröder von der Sozialdemokratie verabschiedet hat und Willy Brandt der letzte sozialdemokratische Kanzler war. Und es sieht derzeit nicht danach aus, als ob sich das ändert. Auch dank Schmidt Schnauze.