#RIPtwitter

tl;dr: Twitter wird Facebook immer ähnlicher, weil die Leute es immer mehr wie Facebook nutzen.

twitter

Twitter stirbt 1000 Tode. Mal ist es ein Herzchen, das das alte Sternchen ersetzt, mal sind es Hiobsbotschaften irgendwelcher Analysten betreffend Nutzungs- und Nutzerzahlen, mal ist es die Aufhebung der 140-Zeichen-Grenze (die es übrigens im Original-Twitter nicht gab und erst mit der SMS-Schnittstelle eingeführt wurde.). Im Moment ist es unter dem Hashtag #RIPTwitter der Plan, die chronologische Anzeige der Tweets abzuschaffen und durch einen Algorithmus zu ersetzen, wie wir ihn von Facebook kennen. Das soll schon nächste Woche passieren.

Nun steht also zum zigsten Male Twitters Tod bevor, einige entstauben aus Protest ihre Ello-Accounts und überhaupt zeigt sich die Tech-Avantgarde auf Twitter erstaunlich konservativ, wenn es um Veränderungen an ihrem Lieblingsdienst geht. Vielleicht ist sie aber auch gar keine Tech-Avantgarde, denn sehr viele Tweets, die gerade unter #RIPTwitter gepostet werden, stellen auf das Reizwort „Algorithmus“ ab – und die sind natürlich per se böse. Auch wenn ich nicht ganz nachvollziehen kann, wie diese Menschen es schaffen, entsprechend einem vorgegebenen Algorithmus verarbeitete Nahrungsmittel (=Kekse) angstfrei zu sich zu nehmen.

Aber zur Sache: Ja, ich finde eine chronologisch sortierte Timeline auf Twitter im ersten Impuls auch schöner. Dann muss ich aber daran denken, dass ich nunmal auch nicht den ganzen Tag gucke, was auf Twitter los ist und ich eine Zusammenfassung der wichtigsten Tweets durchaus interessant fände. Tatsächlich verbringe ich relativ viel Zeit damit, Diskussionen im fortgeschrittenen Stadium zurück zu ihren Anfängen zu verfolgen, um zu verstehen, worüber da eigentlich gerade alle reden. Ideal wäre, wenn Twitter einfach beides anbieten würde: Eine algorithmisch sortierte Timeline und die chronologische Sortierung. Et voila: Genau das planen sie. Bleibt zu hoffen, dass sie nicht den Fehler machen, es genauso schlecht wie Facebook zu implementieren, das sich die einmal gewählte Einstellung nicht merkt. Richtig richtig elegant wird die Angelegenheit übrigens, wenn wir uns einen Client mit mehreren Spalten vorstellen wie z.B. Tweetdeck, das ja längst Twitter gehört. In einer Spalte könnte die chronologische Sortierung stehen, in einer weiteren die algorithmische. Also einfach erstmal abwarten: Vielleicht wird ja sogar ganz toll, was Twitter da baut?

Als Twitter neu war, war die Idee mal, dass sich kleine Gruppen von Menschen gegenseitig Status-Updates geben, z.B. der Bürogemeinschaft mitteilen, dass sie jetzt Mittagspause machen. Für eine solche Nutzung ist natürlich die chronologische Reihenfolge unbedingt nötig. Allerdings wird Twitter so längst nicht mehr genutzt. Diese Aufgabe haben längst, Whatsapp, Slack usw. übernommen. Stattdessen wird debattiert und kommentiert, Links werden in die Welt gepostet und Membilder. Ganz wie auf Facebook. Leute sind beleidigt, wenn eins ihnen nicht zurückfolgt, obwohl es gar kein „Friending“ wie auf Facebook gibt. Fremde grätschen sich gegenseitig in die Kommunikation und allerorten ist fröhlich Trollerei. Wenn Twitter zu etwas längst nicht mehr taugt, dann für den Use-Case, für den Twitter mal gedacht war. Wenn Twitter versucht, Facebook ähnlicher zu werden, dann liegt das auch daran, dass die Leute ständig versuchen, Twitter wie Facebook zu benutzen.

Aus der Sicht von Twitter ergibt die Einführung der algorithmischen Sortierung jedenfalls sehr viel Sinn. Twitter hatte schon immer Schwierigkeiten damit, dass Neu-Nutzer nicht so recht damit klarkamen. Intressante Accounts und Inhalte müssen im Heuhaufen erst einmal gefunden werden. Wer neu dazu kommt, wird schnell wieder zur Karteileiche. Eine algorithmische Aufbereitung ist also durchaus im Sinne der Nicht-Hardcore-Nutzer und könnte die Twitternutzung wieder ankurbeln. Gleichzeitig ist sie im Sinne der prominenten Twitterer mit vielen Followern. Die kriegen aufgrund ihrer Leserzahl mehr Likes und Retweets, was vermutlich dazu führen wird, dass ihre Tweets durch den Algorithmus noch sichtbarer werden als zuvor. Verlieren werden diejenigen, die weniger Follower als Sendungsbewusstsein haben. Deren Tweets werden vermutlich weniger sichtbar sein als bisher. Wahrscheinlich wird es schwieriger sein, auf Twitter populär zu werden und sich eine Followerschaft zu erarbeiten. Dafür haben die Social-Media-Berater in Zukunft mit dem Algorithmus einen Kaffeesatz mehr, aus dem sie lesen können, um ihren Kunden Rezepte für mehr Aufmerksamkeit anzudienen.

Der Umbau ist also aus Business-Sicht keine schlechte Idee. Und leider ist Twitter ein Business. Das blenden viele Nutzer gerne aus: Ihre Forderungen laufen im Grunde auf eine Demokratisierung der Plattform hinaus. Konsequent gedacht: antikapitalistisch. Enteignen und so. Also das, wofür es sonst Haue gibt, wenn man* es zu klar sagt. Demokratisierung ist bei hinreichend großen Plattformen eine sehr berechtigte Position. Bin ich auch ganz und gar für. Ich frage mich nur, warum dann nicht längst alle bei APP.net, Identi.ca, Ello und natürlich Diaspora sind. Mein Tipp: Sie werden es auch in Zukunft nicht sein. Und Twitter wird auch diesen Tod überleben (wenn es nicht sowieso schon tot ist.)

Update: Jack Dorsey dementiert.