tl;dr: Wer angesichts der Ereignisse von Köln ein „Medienversagen“ beklagt, spielt den „Lügenpresse“-Rufern in die Hand und lenkt vom eigentlichen Thema ab: sexuelle Gewalt gegen Frauen und Polizeiversagen.
Ich hatte gestern schon über die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht gebloggt – überwiegend mit sehr positivem Echo. Es freut mich zu lesen, dass Versuchen, die sexuellen Übergriffe für Ausländerfeindlichkeit zu instrumentalisieren, gerade entschieden widersprochen wird, insbsondere auch von Feminist_innen. Gut so. Mir ist da allerdings noch ein anderer Punkt aufgefallen:
Derzeit wird viel gefragt, warum die Berichterstattung erst so spät einsetzte. Manche mit dem „Lügenpresse“-Holzhammer, andere ein wenig subtiler, immer mit dem verschwörungstheoretischen Geraune, sobald Ausländer Straftaten begingen, werde das in den Medien unterdrückt. Und natürlich kommen alle aus der rechten Ecke.
Die Antwort steht im Kalender. Schauen wir uns mal die Abfolge der Ereignisse an: Silvester war am Donnerstag, Neujahrstag am Freitag war Feiertag. Es folgten mit Samstag und Sonntag das Wochenende. Auch Redakteure und Journalisten machen Urlaub, spannen über den Jahreswechsel ein paar Tage aus oder haben Wochenende. Wann, wenn nicht dann? Ich weiß aus eigener Anschauung, dass die Redaktionen nur spärlich besetzt sind. Zu großen Teilen wird gedruckt und gesendet, was die abwesenden Kollegen vorproduziert hatten, der Rest kommt aus Agenturmeldungen. Investigativer Journalismus findet nicht oder nur sehr eingeschränkt statt. Dass die Redaktionen keine Chance hatten, auf die Ereignisse aufmerksam zu werden, liegt auch daran, dass es eben keine entsprechenden Agenturmeldungen gab. Die Kölner Polizei hatte zunächst einen Bericht veröffentlicht, wonach Silvester in Köln friedlich verlaufen sei. Die Ereignisse auf der Domplatte wurden nur am Rande erwähnt. Wer dem als Journalist nachgehen will, muss das am Wochenende tun, wenn kaum jemand erreichbar ist.
Der Polizeibericht ist vom 1. Januar um 8.57 Uhr. Ich kann mir deutlich vorstellen, dass dem Beamten, der ihn verfasst hat, selber der Überblick fehlte. Wenn, dann ist hier vor allem von Polizeiversagen zu sprechen. Wie konnte es dazu kommen, dass es allerlei Augenzeugenberichte gab, die mitteilten, die Polizei habe nicht eingeschritten bzw. sei nicht hilfreich gewesen? Waren die Einsatzkräfte mit der chaotischen Situation der Silvesternacht schlicht überfordert? Und ist es nicht völlig normal, dass es ein bis zwei Tage dauert, bis sich diese Augenzeugenberichte zu einer Nachricht verdichten, während eine offizielle Quelle fehlt?
Jedenfalls: Am Wochenende gab es die ersten Berichte von Lokalmedien und am 4.1. – Montag und erster Werktag – nahm die Berichterstattung volle Fahrt auf und überschlägt sich seitdem: Google News listet eine vierstellige Anzahl von Artikeln. Zu behaupten, die Medien würden nicht berichten, ist absurd. Der Ablauf zeigt: Verschwörungstheorien sind Unsinn. Vermutlich können sich Menschen, die das Internert gewöhnt sind, wo Meldungen im Sekundentakt hereinkommen, nicht mehr vorstellen, dass Journalisten eben auch mindestens Stunden und manchmal Tage brauchen, um zu reagieren und zu recherchieren – und zwar nachdem ihnen selbst eine Sache bekannt geworden ist.
Dass am Wochenende kaum berichtet wurde, liegt an einer Verkettung von Umständen, die sich vielleicht Medienversagen nennen lässt. Wer das tut, sollte sich dann aber fragen, ob er oder sie nicht in Zukunft auf Urlaub und Feiertage – insbesondere an Silvester – verzichten möchte. Wenn versucht wird, hier Manipulation zu unterstellen, dann ist das ein Nebenkriegsschauplatz, der ein pegidiotisches Weltbild abrunden soll.
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