tl;dr: #Neuland ist auch 2013 eine gute Metapher und wir sind ziemlich arrogant.
Auf meiner Twitter-Timeline orgasmieren gerade sehr viele Menschen darüber, dass Angela Merkel in ihrer Rede den Begriff „Neuland“ benutzt hat als Metapher für das Internet. „Neuland“, nach 40 Jahren Internet und nach mehr als 20 Jahren WWW. Wie gestrig kann man eigentlich sein? Diese künstliche wie genüssliche Aufregung derjenigen, die eine Tastatur und einen Twitter-Account haben, nervt. Ja, die Formulierung „Das Internet ist für uns alle Neuland“ ist dumm und anmaßend. Sie tut so, als gebe es kaum Menschen, für die das Netz kein Neuland mehr ist. Aber wir Netzbewohner, wir sind keinen Deut besser.
Ich weiß nicht, wie gut sich Angela Merkel mit dem Netz auskennt. Wahrscheinlich besser, als wir denken, schließlich dürfte sie als Pyhsikerin schon früh mit Computern in Berührung gekommen sein – als Politikerin nach 1989 aber eher weniger. Was mich extrem stört an die Reaktionen auf das Wort „Neuland“: In Deutschland gibt es ca. 50 Millionen Internet-Nutzer, das heißt etwa 30 Millionen Menschen haben keinen bewussten Kontakt zum Internet (unbewusster wie der Besuch des nächsten Geldautomaten zählt nicht). Von diesen 50 Millionen Menschen sind noch sehr, sehr viele abzuziehen, für die das Internet lediglich aus „Spiegel Online“ und Homebanking besteht – und das ist weder eine Altersfrage, noch liegt es daran, dass die irgendwie doof oder ignorant seien.
Ich behaupte: Gemessen an der Bevölkerung sind die Digtial Natives und die Digital Immigrants – also diejenigen Menschen, die das Internet intensiv nutzen, andere Arbeitsweisen pflegen und einen anderen, vernetzten, offenen Mindset haben – immer noch eine Minderheit. Sicherlich eine große Minderheit, mehrere Millionen Menschen, aber immer noch eine Minderheit. Wer weiß, wie Mitarbeiter einer Firma auf die Einführung einer neuen Software reagieren oder schonmal versucht hat, seinen (Groß-)Eltern Twitter zu erklären, versteht was ich meine.
Wir Digital Natives und frühen Digital Immigrants sind tatsächlich die ersten Siedler eines Neulandes. Wir machen das Neuland urbar, wir schaffen Strukturen und Zivilisation. Wir sind die Pioniere. Ich könnte diesen Text genauso gut 1997 geschrieben haben, aber er ist weiterhin aktuell. Nur weil die meisten von uns seit ca 10-20 Jahren in diesem Netz leben, heißt das noch lange nicht, dass wir diesen Status als Pioniere verloren haben. Gesellschaftliche Veränderungen brauchen viel länger, als wir in der Filterbubble der Berliner digitalen Boheme so glauben. Vielmehr sind wir mit dafür verantwortlich, diejenigen zu begrüßen, die ebenfalls dieses Neuland betreten wollen. Wir müssen erklären, helfen, offen sein. Wir müssen es verteidigen gegen diejenigen, die aus dem Neuland eine Fortsetzung ihrer alten Welt machen wollen. Das geht am besten, wenn diejenigen verstehen, warum das Neuland ein Neuland ist, in dem die alten Regeln nur begrenzt gelten. Und das können sie nur, wenn sie das Neuland betreten und eigene Erfahrungen sammeln. Wenn sie merken, dass das Neuland ein Raum voller großartiger Möglichkeiten ist und nicht etwas, das man nicht versteht und vor dem man Angst haben muss.
Statt offen zu sein, reagieren wir jedoch arrogant. Wir nennen sie „Internetausdrucker“ und „alte Menschen mit Kugelschreiber“. Die heftige Reaktion auf den Begriff Neuland zeigt deutlich, wie tief der digitale Graben ist, wir sehr wir die „Analogen“ ablehnen und in welchem Ausmaß wir Netzmenschen mit daran verantwortlich sind. Wir graben uns ein in die sprachliche Abgrenzung unserer Subkulturen voller Nerdspeak, der genau diesen Zweck hat: von Außenseitern nicht verstanden werden. Was erwartet ihr eigentlich, wie die Außenseiter auf uns da reagieren sollen? Wann ladet ihr einfach jemanden aus der alten Welt ins Neuland ein?
77 Antworten zu „#Neuland: die Arroganz der Digital Natives“