Dr. Liquid oder wie ich lernte das Feedback zu lieben

Ich hatte mich früher ja eher kritisch zu Liquid Feedback geäußert. Seit ich jedoch daran arbeite(n musste), in Pankow ein so genanntes „Klarnamen-Liquid“ einzuführen, hatte ich viele Gespräche und Aha-Momente, nicht zuletzt auch aus meiner eigenen Liquid-Feedback-Nutzung. Einer der wichtigsten Momente war, als im Berliner Abgeordnetenhaus ein Statement aus LQFB im Plenum direkten Widerhall fand. An dieser Stelle wurde klar, dass Liquid Feedback kein Spielzeug ist und auch nicht irgend ein Forum oder Tool wie das Wiki, sondern dass es immens wichtig ist für die Partei und eine normative Kraft entwickelt, egal ob man es als Organ in der Satzung verankert oder nicht. Um es kurz zu machen: Klare Regelungen und Verankerung in der Satzung wären mir lieber als die momentane Herumeierei.

Dabei gibt es jedoch ein Problem, auch bekannt als die „Klarnamensdebatte“. Mitglieder fordern, an Liquid Feedback anonym oder pseudonym teilnehmen zu können. Ich persönlich begreife Liquid Feedback mittlerweile als eine Art Polis, in der soziale Interaktion stattfindet und in der jeder Teilnehmer für seine Aussagen einstehen und die Verantwortung tragen sollte. Wenn ich in Liquid Feedback delegiere, debattiere und abstimme, will ich wissen, mit wem ich es zu tun habe. „Meine“ Pankower BVV-Fraktion will das erst recht, schließlich stehen die Verordneten mit ihrem Namen im Rampenlicht und tragen Verantwortung. Sie möchten uns via Liquid Feedback echte Mitbestimmung ermöglichen, erwarten aber – zu recht – dass wir Teilnehmer ebenfalls bereit sind, die Verantwortung zu übernehmen für die Entscheidungen, die wir treffen. Wir müssen das schließlich auch überall sonst im Leben. Wir sind Mitglieder einer Partei, wollen aber nicht öffentlich Partei ergreifen? Mit einer Diskussion im Heise-Forum oder auf Google+, deren Nutzung zu recht anonym möglich sein muss, hat Liquid Feedback nichts mehr zu tun.

Trotzdem ist der Ruf nach einem „Wahlgeheimnis“ selbstverständlich berechtigt, wirft aber ein Problem auf: Der Schutz der Anonymität kann in Computersystemen nicht gewährleistet werden – das technisch maximal mögliche ist eine Verschleierung. Die hilft jedoch niemandem, wenn die viel heraufbeschworenen Nazis der Zukunft unser Abstimmverhalten rekonstruieren, bevor sie uns an die Wand stellen.

Was mich immer wieder wundert, ist dass selbst gestandene Informatiker, die es besser wissen müssten, behaupten, es sei mittels komplexer Verfahren möglich, ein Wahlgeheimnis herzustellen und zugleich permanent die Integrität des Gesamtsystems zu garantieren. Ein Liquid Feedback mit Wahlgeheimnis ist nichts weiter als ein Wahlcomputer. Also das, was wir bekämpft haben, wenn der Staat versuchte, es einzuführen. Ganz einfach, weil die Manipulationsmöglichkeiten zu krass sind im Vergleich zu klassischen Wahlen. Im Grunde reicht es bei der Black Box „Wahlcomputer“, dass jemand die Manipulation auch nur behauptet, um das Vertrauen in die Plattform zu zerstören. Keep it simple. Für Liquid Feedback kann nur gelten, es vollkommen offen und öffentlich zu betreiben – oder gar nicht.

Verzichten möchte ich aber auf Liquid Feedback nicht mehr. Auch wenn viele Menschen (noch) davon ausgeschlossen sind, weil die Benutzung sie überfordert, haben jetzt schon wesentlich mehr Menschen einen Liquid-Feedback-Account als sinnvoll an einem Parteitag teilnehmen könnten. Wir wollen die Mitmach-Partei sein, wir wollen Teilhabe. Versammlungen können das bei über 20.000 Mitgliedern ebenso wenig leisten, wie Pads, Foren oder das Wiki. Was wir brauchen, ist eine Lösung, die skaliert. Alternative Lösungsmöglichkeiten wären dezentrale Parteitage und Urwahlen. Man übersieht allerdings leicht, dass sie einen immensen logistischen Aufwand erfordern. Liquid Feedback scheint mir derzeit die einzige Platform zu sein, die jetzt schon mit mehreren 1000 Mitgliedern funktioniert und zumindest theoretisch auch mit Millionen funktionieren kann.

Grunddilemma von Liquid Feedback ist die Aufhebung der Grenze zwischen Politiker, von dem Transparenz erwartet wird, und Wähler, der ein Wahlgeheimnis verlangt. Dabei wäre es doch sehr einfach, diese Trennung wieder herzustellen und zugleich jedem die Wahlfreiheit zu lassen, was er sein möchte. Liquid Feedback sei ein Parlament, an dem jeder teilnehmen können soll, das aber genauso offen arbeitet wie der zum Beispiel Bundestag. Wer da nicht mitmachen kann oder will – egal ob aus Gründen des Wahlgeheimnisses, weil er keine Zeit hat oder das System nicht versteht – wählt bei allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen eine andere Person, an die er seine Stimme für die Dauer einer Wahlperiode überträgt – beispielsweise eine Generaldelegation über alle Themenbereiche für genau ein Jahr. Die Wahlen hierzu können jederzeit und dezentral stattfinden, zum Beispiel auf Mitgliederversammlungen der kleinsten Gliederungen – so richtig schön mit Papier, Wahlurne und Zeugen. Einzige Herausforderung wäre die Gestaltung der Stimmzettel bei potenziell Tausenden von wählbaren Liquid-Feedback-Teilnehmern, aber auch da gäbe es Lösungen.

So können direkt oder indirekt alle teilhaben, auch diejenigen, welche nicht selbst an Liquid Feedback teilnehmen können oder wollen. Die Wahlfreiheit ist gegeben. Die Plattform ist neutral und offen für alle. Wahlcomputer wollen wir nicht. Aber ein Parlament mit beliebig vielen Sitzen – wie geil ist das?

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