„Wir haben versagt„, schreibt Stephan Urbach und meint damit, dass die Netzpolitik in der Blase Internet operiert, ohne „die Menschen da draußen“ mitzunehmen. Die großen Debatten finden schließlich immer noch massenmedial in den großen Zeitungen und Fernsehen statt und weniger in der Netzöffentlichkeit. In gewisser Hinsicht hat er recht:
Ich schrieb mal (wie ich da noch nicht wusste drei Tage vor meinem Eintritt in die Piratenpartei), dass alle Versuche, die Politik zu ändern, vergeblich sind, wenn wir nur Politik für und im Internet machen. Dass es nicht den geringsten Grund gibt, warum sich ein Offliner überhaupt nur ansatzweise für „unsere“ Themen interessieren sollte. Dass wir Begegnung herstellen müssen und den Offlinern etwas anbieten, statt sie als Ausdrucker zu beschimpfen: Das Internet als Instrument für Empowerment. Mein Gedanke war damals, Begegnung herzustellen z.B. indem wir ehrenamtlich Internet-Kurse für Senioren organisieren, bei der Gründung von netzbasierten Tauschringen für Alg2-Empfänger helfen oder Hacker-Camps für Jugendliche anbieten. Geschehen ist davon… nichts. Ich selber habe die Idee kaum vorangetrieben. Wenn jemand etwas vergleichbares getan hat, dann Stephan Urbach und Telecomix.
Aber haben wir versagt? Nein. Als Piratenpartei haben wir den wichtigsten Schritt schon getan – aufgehört, nur Netzpolitik zu machen, und angefangen, die Metapher Internet auf das Leben zu übertragen und daraus Antworten zu ziehen. Unbewusst beantworten wir alle politischen Fragen anhand des Prinzips der Plattformneutralität – ein Prinzip, das zur heimlichen Ideologie einer Partei geworden ist, die nicht ideologisch sein will.
Wenn wir das BGE, Mindestlohn und Reformen beim Alg2 fordern, Teilhabe an kulturellen Gütern und an Bildung, das Ende der Drogenprohibition, die Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften und vollständige Integration von Migranten und dabei aus der einen Ecke als kommunistisch und aus der anderen Ecke als neoliberal beschimpft werden, während wir ja durchaus konservativ sind, was Bürgerrechte und das Grundgesetz angeht, wird klar, dass die Piraten keine Junior-Grünen und kein linker FDP-Flügel sind, sondern ein Denken vertreten, das sich selbst noch gar nicht richtig philosophisch durchdrungen und ausformuliert hat.
Dieses Denken manifestiert sich auch nicht nur im Mem „Piratenpartei“. Seit wir es im Straßenwahlkampf so richtig schön offline vertreten und dank des Wahlerfolgs in Berlin auch in den klassischen Medien transportieren können, beschleunigt sich dessen Verbreitung. In dem Maße, wie piratisches Denken in Kontexten virulent wird, die mit dem Internet nichts zu tun haben, wird umgekehrt auch in der Bevölkerung das Verständnis dafür steigen, warum Netzneutralität im Internet so wichtig ist und es keine Netzzensur geben darf. Netzpolitik ist zum Teilaspekt einer größeren Sache geworden.
Wahlkampf wird man mit Netzpolitik noch sehr lange nicht – vielleicht nie – machen können, auch wenn die Altparteien das jetzt hektisch versuchen und an ihren Varianten von Netzpolitik herumbasteln. Datenschutz und Internetzensur sind jedoch Themen, mit denen diese Parteien keinen Blumentopf gewinnen, sondern nur sich selbst beruhigen können: „Wir kümmern uns ja drum.“ Es kann auch nicht die Aufgabe der Piraten sein, jeden Hardcore-CDU-Wähler im letzten Winkel seines Weltbildes abzuholen; es muss Ziel der Piraten sein, ihr Denken in die Gesellschaft zu tragen und dafür alle Medien zu zu nutzen. Auch Parlamente und Parteien sind übrigens Medien, in die wir wir unsere Themen wie Transparenz und eine offene politische Kultur injizieren können, wie einst die Grünen das mit der Umweltpolitik taten.
Angesichts der allgemeinen Krisenstimmung (die gefühlt nur in den Medien und kaum im Privatleben stattzufinden scheint) hat niemand eine Antwort, aber die Leute scheinen mir genervt von denen zu sein, die Antworten simulieren, und offen für Visionen und Utopien. Ich wünsche mir noch immer auch so etwas wie eine breite soziale Bewegung wie eingangs skizziert. Mit mittlerweile 20.000 Mitgliedern rückt das in die Nähe des möglichen, aber ich bekomme zunehmend das Gefühl, dass sich unser Sozialleben unmerklich über das Internet neu organisiert und was wir derzeit erleben nur die üblichen Konflikte und Verwerfungen einer Wendezeit sind, in der es trotzdem gilt, so viele Menschen wie möglich abzuholen und mitzunehmen. Wenn ich beobachte, wie gerade in der Piratenpartei über die „Unnormalität“ all derer hinweggesehen wird, die freiwillig oder unfreiwillig irgendwelche gesellschaftlichen Normen nicht erfüllen, habe ich das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein.
Wir haben nicht versagt, sondern stehen noch immer Anfang, denn das, was wir vorhaben, dauert Jahre und Jahrzehnte. Gemessen daran sind wir sogar ziemlich erfolgreich. Nur wenn wir jetzt nichts daraus machen, werden wir versagen.
13 Antworten zu „Wir haben nicht versagt“