Kategorie: Blog

Blogposts

  • Open Mind 2011

    Ich weiß jetzt schon: Wenn ich am Silvesterabend zurückblicken werde, welche drei Dinge mich 2011 nachträglich am meisten ärgern, dann dass ich nicht zur Open Mind nach Kassel gefahren bin. Einige der Vortragenden haben ihre Vorträge noch einmal aufgeschrieben und auf Telepolis veröffentlicht. Das ist alles nicht nur extrem lesenswert, sondern ich bin ernsthaft baff, in fünf dieser sieben Artikel die Quintessenz dessen wiederzufinden, womit ich mich gedanklich, bloggend und politisch die letzten zwölf bis 24 Monate beschäftigt habe:

    Werke wie Musikstücke und Filme sind – wie wir dank der Digitalisierung wissen – nicht viel mehr als Daten, Nullen und Einsen und damit nichts anders als große Zahlen. Daten sind nicht ökonomisch knapp, man kann sie durch Kopieren nicht mal stehlen, immerhin hat sie der vermeintlich Bestohlene ja immer noch. Sie sind in beliebiger Menge vervielfältigbar und jeder kann sie nutzen ohne andere dabei einzuschränken.

    Andreas Popp:
    Warum Eigentum nicht geistig sein kann

    Ich bin (…) überzeugt davon, dass die meisten Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft in der institutionalisieren Wissenschaft tätig sind, aufrichtig handeln und sich ihr Ansehen und ihre akademischen Weihen ehrlich verdienen. Aber dass eine besondere kriminelle Energie nötig ist, um das System auszuhebeln, glaube ich nicht. Denn die institutionalisierte Wissenschaft selbst – konkret, das System der wissenschaftlichen Qualitätskontrolle – versagt hier auf eine vorhersehbare, in diesem System selbst angelegte Art und Weise.

    Anatol Stefanowitsch:
    Institutionalisierte Wissenschaft reloaded

    Wie krass der Unterschied von einst zu heute ist, merkt man am besten an den Anachronismen, die in der alten Medienwelt bis heute überwinterten. Es gibt immer noch den Reflex der Massenmedien, sobald irgendwo ein Unglück geschieht, dass die Opferzahl unter den Deutschen extra ausgewiesen wird. So nach dem Motto: „Erbeben in China. 12 Deutsche verletzt. Insgesamt 8000 Todesopfer.“ Auf den ersten Blick wirkt das für unsereins zynisch und auf den zweiten nationalistisch, fast rassistisch. Aber ich glaube, diese Deutung ist falsch. Es ist schlicht: aus der Zeit gefallen.

    Michael Seemann:
    Die gesellschaftliche Singularität ist nah

    Zur Folge hat dies oft, dass sich die Medien ihre Flügel selbst definieren. Als es 2010 um die Programmerweiterung ging, wurden zwei Lager definiert: das progressive Pro-BGE-Lager rund um Deutschlands Nord-Osten und das konservative Contra-BGE-Lager, vor allem aus den südlichen Bundesländern. Ähnliches geschah bei der Wahl zum Bundesvorsitzenden im Mai 2011, als trotz zahlreicher Kandidaten die Wahl künstlich zu einem Showdown zwischen einem eher gemäßigteren LiquidFeedback-kritischen, südlichen Nerz und dem progressiven LiquidFeedback-Fan Lauer aus Berlin hochstilisiert wurde.

    Fabio Reinhardt:
    Two wings to fly

    Und in der Tat ist eine sachliche Diskussion über Feminismus und die Themen des Feminismus kaum möglich – ja, wird sie schon im ersten Schritt an dem semantischen Bias des Begriffes abgelehnt. Außerdem wird ein feministischer Diskurs grundsätzlich als ideologisch und nicht faktenorientiert empfunden. Und so bleibt letztlich nur die Frage: Warum? Woher kommen diese Emotionen? Was lässt emanzipatorisch gesinnte Menschen eine Emanzipationsbewegung so ablehnen?

    Julia Schramm:
    Einfach mal zuhören

    Ich kam auf den mir damals noch völlig abwegig erscheinenden Gedanken, diese Gelegenheit zu nutzen, etwas öffentlich anzusprechen, was ich viele Jahre lieber verschwiegen hatte: meine eigene psychische Krankheit. (…) Der Moment, bevor ich mich vor die gut 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmer stellte, war auch der letzte, bei dem ich wirklich unangenehm aufgeregt war. Einmal das Mikrophon in der Hand und die ersten, halb gestotterten Ansätze überstanden, verschwand die Anspannung schlagartig.

    Andreas Preiß:
    Post-Privacy: Schwäche zeigen, Stärke beweisen

    Ein Wahl-O-Mat der nicht allzu fernen Zukunft wird natürlich weit mehr können. Er recherchiert – für mich personalisiert – die Entscheidungen der Politiker, ihre Versprechen, ihre Lügen, ihre Lobby, ihre Ziele. Er beobachtet mich in Twitter und Facebook und bestimmt so meine Präferenzen, schaut, mit wem ich befreundet bin und was mir und meinen Freunden wichtig ist. Wie lange mein Facebook-Avatar den „Atomkraft – Nein Danke“-Badget trägt. Auf welchen Webseiten ich wie lange verweile. Und aus all dem kann der Wahl-O-Mat der Zukunft mir eine unumstößliche Präferenz für eine Partei berechnen.

    Jörg Friedrich:
    Der Wahl-O-Mat

  • Links der Woche

    • Überwachung: Bitte recht freundlich:Irgendwann bemerkte ich eine Stimme in meinem Kopf: „Dreh dich auf der Straße nicht um! In den Akten stand, dass sie das bei Andrej verdächtig fanden.“ – „Mach keine Witze über Brandanschläge am Telefon! In den Akten stand, dass sie das in einem Telefongespräch mit deiner Mutter angestrichen haben.“ Dabei war ich selbst ja gar nicht verdächtig. Meine Telefonate wurden trotzdem abgehört und in den Akten kommentiert.

    • Muslime und Schwule: ein konstruierter Gegensatz:Homophobie, also die moralische Ablehnung sexueller Beziehungen unter Menschen desselben Geschlechts (vor allem unter Männern) ist – zumindest in der Form, wie wir sie kennen – eine Erscheinung, die wesentlich zur westlich-abendländischen Kultur gehört. Trotzdem ist im Zuge der zunehmenden Islamfeindlichkeit nach den Anschlägen vom 11. September vor allem der Islam in den Ruch der Homophobie gekommen.

    • Partizipation 2.0 – das Social Web als Chance für die Bürgerrechte:Während das Web 2.0 die Gesellschaft gefühlt durchlässiger macht, nimmt die soziale Mobilität, und somit die gesellschaftliche Durchlässigkeit, ab, der demokratische Einfluss stagniert seit Jahrzehnten. Im Gegenteil wird durch die Kompetenzverlagerung in die EU sogar ein Demokratiedefizit gepflegt, welches auch die Reform des Vertrags von Lissabon nicht aufheben konnte. Obwohl es einen Konsens über die vermeintliche Politikverdrossenheit zu geben scheint, zeigt sich, dass Verdrossenheit im Wesentlichen über verkrustete Partei- und Politikstrukturen besteht, die dem 21. Jahrhundert nicht mehr angemessen sind.

    • Die Sache mit dem verfassungsrechtlichen Risiko:Im Kreis seiner Mitarbeiter im Kanzleramt offenbarte Kohl, woran er denkt: Wenn sich bald über 700 000 Asylbewerber in Deutschland drängten und wenn die erforderlichen Grundgesetzänderungen mit der SPD nicht zu machen seien, dann werde er sich so verhalten, “als ob” die einschlägigen Grundgesetz-Artikel geändert worden wären.

    • Quis custodiet …:Da ist der Bundestrojaner also. Als erstes muss ich mal festhalten, dass ich von der Heftigkeit der Debatte ernsthaft überrascht bin. Alle Bestandteile waren sein langem bekannt oder doch wenigstens klar und leicht absehbar. Ich fasse mal zusammen, was ich hier schon merhfach gesagt habe.

    • Unter Generalverdacht:„Jemand musste Josef K. verleumdet haben…” beginnt Kafkas düsterer Roman „Der Prozeß”. Und bis zum Ende bleibt im Dunkeln, welches Vergehen dem Protagonisten eigentlich zur Last gelegt wird. Der Gedanke, dass K.‘s Verbrechen womöglich präemptiv gesühnt wurde, also bevor er es überhaupt begehen konnte, ist wohl nur den wenigsten Kafka-Interpreten gekommen.

    • Netzfreiheit: Die Antwort der Piraten:Wer das jetzt als staatliches Kavaliersdelikt abtut, der rüttelt an den Grundfesten unseres Zusammenlebens und zerstört den Glauben an den Rechtsstaat in derselben Weise wie prügelnde Polizisten, schlampige Richter oder korrupte Beamte. Tatsächlich findet in vielen Bereichen des Sicherheitsapparats keine wirksame Steuerung oder Kontrolle statt. Die Ursachen für die Staatstrojaneraffäre liegen nicht in mangelndem technischen Sachverstand oder finanziellen Engpässen. Sie sind in der grundsätzlichen Struktur zu suchen, die mit Konstruktionsfehlern behaftet ist, die nicht erkannt und beseitigt werden, weil vieles den Augen der Öffentlichkeit und der politischen Kontrolle entzogen ist.

    • Der Trojaner nach dem Trojaner:Ich bin Informatiker, kein Jurist. Die Juristen und Verwaltungsmenschen, die ich kenne, haben mich jedoch gelehrt, daß Menschen in Deutschland Handlungsfreiheit haben – sie können tun, was immer sie wollen, solange dem nicht ein Verbot durch ein Gesetz entgegensteht. Dem Staate jedoch, so erklärten sie mir, ist diese Freiheit nicht gegeben: Grundlage allen staatlichen Handelns muß ein Gesetz sein.

    • The Little Ice Age and Other Unintended Consequences of the Conquest of the Americas:Low-level burning kept grasslands from turning into forests, helped create forests that looked to Europeans like great parks, and produced charcoal that was used to make thin soils fertile through terra preta. And these practices effectively kept enormous amounts of carbon dioxide constantly in the atmosphere rather than locked into trees and other vegetation. When native populations collapsed, however, the burning stopped or was greatly reduced, and the carbon dioxide was quickly locked up into forests again. Now, what follows is quite controversial. Mann cites some recent research that argues that this must have made a big contribution to the so-called Little Ice Age

  • Wenn Politiker ihre Meinung nicht sagen sollen… oder wollen

    Die Piratenpartei hat zu etlichen Themen keine Positionen und bis die wirklich in alle Verästelungen und Politikbereiche ausgedacht, ausformuliert und auf Parteitagen verabschiedet sind, wird noch sehr viel Zeit vergehen. Bloß was tun wir bis dahin? Die Frage zum Beispiel, wie im Falle einer Regierungsbeteiligung eigentlich die Außenpolitik der Piraten aussähe, ist ja nun mehr als berechtigt, vor allem wenn gewisse Parteimitglieder laut über solche Optionen nachdenken.

    Nehmen wir ein akutes Problem, die Schuldenkrise. Im Handelsblatt erschien ein Interview mit Piraten-Vorstand Matthias Schrade. Darin sagt er vieles, was ich so unterschreiben würde, und vieles, was ich für falsch halte – unter anderem dass Griechenland und andere Länder unter Umständen die Währungsunion verlassen müssen.

    Fabio Reinhardt hat in seinem Blog geantwortet. Inhaltlich nimmt er in der Griechenland-Frage die Gegenposition ein – da bin ich übrigens ganz bei Fabio – kritisiert aber vor allem, dass da ein Piratenvorstand seine „Privatmeinung“ kund tut, was derzeit kontraproduktiv sei, weil diese „Privatmeinung“ nicht nur falsch sei, sondern auch die FDP in Berlin und Gauweiler in der CSU damit auf die Schnauze geflogen seien. Stattdessen lobt er Sebastian Nerz:

    Gerade beim Thema Eurokrise hat er sich sehr vorbildlich verhalten. Sebastian gab an, eine eigene, wohldurchdachte Meinung zu dem Thema zu haben und lehnte es aber – trotz mehrmaliger Nachfrage – ab, diese zu äußern, da sie natürlich in einer öffentlichen Gesprächssituation als Parteimeinung verstanden werden könnte.

    Wie bitte? Sebastian ist Bundesvorsitzender der Piratenpartei. Er wird sich sehr wahrscheinlich irgendwann zur Wiederwahl stellen. Und ich würde mich wundern, wenn er nicht auch für ein Mandat kandidiert. Aber selbstverständlich möchte ich wissen, wie er über dieses Thema denkt – gerade auch weil es hierzu noch keine Parteibeschlüsse gibt, die er nachbeten kann.

    Wie leicht bei einem solchen Stil die Kommunikation krepiert, sieht man schön an diesem Interview im  Deutschlandradio, wo Sebastian sich zunächst wacker schlägt, sich dann aber im Konflikt zwischen Transparenz und Privatmeinung verheddert und am Ende recht unsympathisch rüberkommt.

    Überhaupt, „Privatmeinung“, was für ein Unwort! Korrigiert mich, aber die Piratenpartei ist unter anderem angetreten, um Politik wieder menschlicher zu gestalten. Dazu gehört auch, die öffentliche Inszenierung „Politiker“ und den Alltagsmenschen wieder mehr zur Deckung zu bringen. Für offizielle Sprecher gilt natürlich etwas anderes, aber von Amts- und Mandatsträgern erwarte ich einfach, dass sie sagen, was sie denken. „Privatmeinung“ ist das Gegenteil von Transparenz. Wer seine Meinung nicht sagen will, sollte gar nicht erst für den Vorsitz einer Partei kandidieren. Immerhin werden unsere Spitzenleute in den Interviews zu aktuellen politischen Themen befragt und nicht zu ihren sexuellen Vorlieben.

    Aber es gibt zwischen „Dazu hat die Piratenpartei noch nichts entschieden und ich will meine Privatmeinung nicht sagen.“ einerseits und „Dazu hat die Piratenpartei noch nichts entschieden, aber ich persönlich habe keine Meinung dazu oder finde, dass Carthago zerstört werden muss“ andererseits noch einen dritten Weg: „Dazu hat die Piratenpartei noch nichts entschieden, aber wenn Sie sich unsere anderen politischen Forderungen wie Netzneutralität, Abschaffung von Studiengebühren oder bedingungsloses Grundeinkommen ansehen, können Sie davon ausgehen, dass die Piraten für Solidarität mit Carthago plädieren werden.“

    Wir müssen noch viel lernen. Besonders wenn wir den anderen nicht alles nachmachen wollen.

  • Der Name des Bundestrojaners

    Ein Trojaner ist ein Trojaner ist ein Trojaner. Erinnert ihr euch daran, dass wir kurz nach Bekanntwerden des „Bundestrojaners“ diesen erstmal „Landes-“ oder „Staatstrojaner“ nennen mussten, weil das Innenministerium behauptet, das Ding sei nie vom BKA eingesetzt worden? Heute können wir zu alter Gewohnheit zurückkehren und das Baby wieder beim Namen nennen. Innenminister Friedrich im FAZ-Interview:

    Auf Bundesebene, also beim Bundeskriminalamt, dem Bundesamt für Verfassungsschutz und der Bundespolizei, ist das seit 2008 gerade mal in rund 25 Fällen geschehen.

    Da hat er mal eben so den Einsatz auf Bundesebene und durch das BKA doch zugegebenen. Ich finde ja faszinierend, wie die die bekannten Kommunikationsschemata der Altparteien – lügen, vertuschen, abwiegeln – auch heute noch angesichts unbestreitbarer Tatsachen greifen. Ansonsten: was Christoph Lauer sagt! Eine grundgesetzkonforme Überwachung von Computern ist schon technisch nicht möglich. Der Einsatz des Bundestrojaners muss auf allen Ebenen gestoppt und der Quellcode der Software zur Analyse und Schadensbegrenzung veröffentlicht werden.

    P.S.: Langsam können wir aber auch anfangen, das Ding „Eurotrojaner“ zu nennen.

  • Links der Woche

    • Ein paar Gedanken zum Bundestrojaner:Die Affaire um den Staatstrojaner stellt uns alle vor die grundlegende Frage: In welchem Land wollen wir leben? Denn natürlich ist nicht alles schön und gut – wie die Brandanschläge auf die Deutsche Bahn zeigen.(…) Doch mit solch grundlegenden Fragen mag sich in Berlin kaum jemand befassen. Es nähmen die angestammten Parteien die Trojaner-Sache nur als weiteren Kommunikations-Kollateralschaden im Fluss des politischen Alltags hin. Dabei ist es gerade in Zeiten solche extremer Wechsel nötig, sich auf das eigene Fundament zu besinnen.

    • Dennis Ritchie (Sep 1941-Okt 2011):Es ist absolut unmöglich, mit Computern zu arbeiten und mit den Arbeiten und den Ideen von Dennis Ritchie nicht an jedem einzelnen Tag in direkten Kontakt zu kommen. Dennis Ritchie starb am 9. Oktober 2011. Seine Arbeit ist unsterblich.

    • German Joys: The Euro Crisis in 300 Words or Less:Thus, the only option left is for Europe to prop up Greece for years. For all practical purposes, this doesn’t mean loaning Greece money, it means giving Greece money. Lots of it.

    • Essay über Transparenz und Geheimnisse:Problematisch ist der undifferenzierte Umgang mit der eigenen Privat- und Intimspähre. Wer sich allgemein zu sehr entblösst, der verliert an Wertschätzung, Achtung und Respekt, weil er sich damit wahllos anzudienen scheint.3 Er offenbart dadurch nicht nur einen Mangel an Selbstachtung, sondern ebenfalls eine Indifferenz gegenüber anderen Menschen, was von diesen wiederum als Mangel an entgegengebrachter Aufmerksamkeit und Respekt empfunden wird.

  • Peter Altmaier, Malte Spitz und die Piraten

    Der Tag brachte zwei bemerkenswerte Artikel von Spitzenpolitikern konservativer Parteien: Der eine liest sich ganz fluffig und gerade auch für Offliner sehr verständlich, zeugt aber beim erneuten Lesen von tief gehenden Gedanken zum Phänomen Piratenpartei und zur Netzkultur, die sich der Autor gemacht hat. Der andere simuliert Fachwissen, häuft aber nur Gemeinplätze an. Beginnen wir mit dem zweiten: Malte Spitz, Mitglied im Bundesvorstand der Grünen, beginnt seinen SPON-Artikel mit einer Respektbekundung, behauptet dann aber, die Piratenpartei habe nicht nur keine Inhalte, sie stammten auch noch nicht mal von den Piraten. Abgesehen davon, dass es paradox ist, klingt das wie ein Vorwurf an Kommunisten, sie hätten sich das ja alles gar nicht selber ausgedacht sondern von Marx geklaut.

    Es stimmt: die großen netzpolitischen Schlachten der letzten Jahre wurden nicht von der Piratenpartei geschlagen, sondern vom CCC, vom AK Vorrat, vom AK Zensur, FoeBud e.V. und anderen Gruppen. Das kann auch gar nicht sein, die Piratenpartei ist nämlich nicht Vater dieser Auseinandersetzungen sondern ihr Kind. Sicher: gegründet wurde sie schon 2006 – in ihrer heutigen Form nahm sie jedoch erst 2009 Gestalt an. Der Vorwurf ist also ungefähr so albern wie den Grünen vorzuwerfen, ihre Politik sei von Greenpeace oder der Antiatombewegung geklaut, wo im übrigen auch Mitglieder anderer Parteien mitmachen würden.

    Die Piratenpartei, so behauptet Malte Spitz, inszeniere ihr Anderssein nur. Für eine Inszenierung braucht man freilich jemanden, der inszeniert – und so jemand ist bei den Piraten nun wirklich weit und breit nicht zu sehen. Die Wurzeln der Piratenpartei gehen diffus auf den kalifornischen 60er-Jahre-Zeitgeist der ersten Programmierer, die Erfinder des Internet und auf die Hacker-Ethik zurück, aber auch auf das ganz aktuelle Lebensgefühl der hier und jetzt mit dem Internet sozialisierten Menschen, die heute überwiegend unter 30 Jahre alt sind.

    Sie ziehen ihre Agenda nicht aus einer zentralen Ideologie, sondern aus dem Lebensgefühl einer Generation, welches sich gerade erst allmählich zu so etwas wie Ideologie formt. Der Kulturwissenschaftler Michael Seeman legt das knapp, verständlich und lesenswert dar: Ein, wenn nicht der zentrale Wert der Piratenpartei ist die „Netz- oder Plattformneutralität“. Für diesen sperrigen Begriff wünsche ich mir noch einen Ersatz, der das Prinzip stärker auf die gesamte Gesellschaft erweitert, aber man kann damit arbeiten. Von der Kernforderung, Information müsse frei zugänglich sein und niemand dürfe von ihr abgeschnitten werden, wird dieses Prinzip auf immer neue Lebensbereiche übertragen:

    Ein Beispiel ist die Vision vom bedingungslosen Grundeinkommen, das helfen soll, allen ohne Diskriminierung eine ökonomische Teilhabe zu ermöglichen. Die Sozialpiraten arbeiten gerade u.a. an der konkreten Umsetzung: Eine schlagartige Einführung ist ja nicht zu erwarten – wie könnten die vorhandenen sozialen Systeme nach und nach in dieser Richtung transformiert werden? Ein weiteres Beispiel auf lokaler Ebene: kostenloser öffentlicher Nahverkehr für alle über eine kommunale Abgabe. Das ärgert zwar die Autofahrer, die keine Lust haben, die Bahn mit zu bezahlen, aber was mit GEZ und öffentlich-rechtlichen Sendern möglich ist, sollte auch bei der meiner Meinung nach viel wichtigeren Mobilität denkbar sein.

    Ein letztes Beispiel, das besonders deutlich illustriert, wie wenig die Piratenpartei von ihren Konkurrenten verstanden wird, ist die Frauenquote. Sie wird von den Piraten abgelehnt, weil sie Diskriminierung zwischen den Geschlechtern zementiert anstatt sie abzubauen. Unausgegorene Ideen wie der „Frauenstudiengang Informatik“ an der HTW Berlin, der allein erziehenden Müttern das Studieren in Teilzeit ermöglicht, zeigt die Beschränktheit des Quotendenkens: Warum ist so etwas an einige wenige Studiengänge gekoppelt und nicht einfach Standard? Und was ist, wenn allein erziehende Väter in Teilzeit studieren wollen?

    „Piraten machen es sich leichter“, ist der Artikel von Malte Spitz überschrieben. Ansichten und Forderungen wie letztgenannte müssen gerade im linken Spektrum, zu dem die Piratenpartei ja irgendwie auch gehört, nicht nur mühsamst erklärt werden – man kann ganz schön politische Haue dafür bekommen, und zwar von allen Seiten. Da tun die Piraten vieles, aber leicht machen sie sich nichts.

    Das waren nur wenige Beispiele und in der Piratenpartei wird fleißig weiter an Inhalten gearbeitet. Man sieht das bloß nicht so, weil darüber nicht auf Parteitagen und im Feuilleton gestritten wird, sondern im Netz. Also zurück zur Netzpolitik, zur Frage, wie tief greifend das Internet die Gesellschaft verändert. Einer, der das verstanden hat, ist Peter Altmaier, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Bundestagsfraktion. In seinem FAZ-Artikel beschreibt er, wie ihm allmählich bewusst wird, wie dramatisch die Umwälzungen sind, die das Internet mit sich bringt, und dass das längst noch nicht im öffentlichen Bewusstsein angelangt ist.

    Zwar redet Altmaier noch vom „Virtuellen“, das „in die Realität schwappe“, als sei früher nicht real gewesen, was im Netz geschehe, das ändert aber nichts an der Richtigkeit seiner Diagnose: „Die politische Freiheit und Gleichheit der Bürger realisiert sich im Netz zum ersten Mal in Permanenz.“ Es geht aber nicht nur darum, das Politik schneller wird, die Reaktionszeiten kürzer und heute Facebook und Twitter im Auge zu behalten sind – sondern auch darum, dass die aller meisten Politiker und Mitglieder der Elite des Landes das noch nicht verstanden haben und mit Verachtung und Spott auf die Netzkultur reagieren. Reagiert mein Volksvertreter so auf meine Alltagsgewohnheiten, reagiere ich als Wähler wiederum gerne, indem ich mir einen anderen Volksvertreter suche, der mich und meinen Alltag versteht. Wenn man nicht aufpasst, entsteht so rubbeldiekatz eine neue Partei.

    So lange Unionspolitiker wie Peter Uhl ihre Ignoranz demonstrativ vor sich hertragen, droht die CDU nicht gerade, zur zweiten Piratenpartei zu werden. Leider spielt Peter Altmaier hier wissentlich oder unbewusst in einem „Good-Cop-Bad-Cop“-Spiel mit. Sein restlicher (übrigens sehr lesenswerter) Artikel ist „Netzpolitik in a Nutshell“. Guttenplag, Wikileaks, Twitter, Schwarmintelligenz, Netzkultur und Occupy Wallstreet: All das wird dem meist konservativen FAZ-Leser nahe gebracht. Das macht sichtbar: Viele dieser Themen haben nichts mit der Piratenpartei zu tun. Das ist aber kein Makel, schließlich muss lange nicht alles von der Piratenpartei thematisch angenommen werden, bloß weil es das Internet als gesellschaftliches Betriebssystem benutzt – vielmehr geht es den Piraten um dieses Betriebssystem selbst. In der Gentechnik werden manipulierte Viren verwendet, um Gene in einen Organismus einzuschleusen. Analog dazu hat für mich die Piratenpartei die Funktion, Meme in den Politikbetrieb einzuschleusen.

    Ich finde, das macht sie sehr gut.

  • Cochlea-Implantat: Die Operation

    Ich habe schon so viel übers Cochlea-Implantat geschrieben, aber wie verläuft eigentlich die Operation? Vorab sind einige Voruntersuchungen nötig. Unter anderem werden ein CT und ein MRT gemacht. Verschiedene Hörtests werden durchgeführt – es muss klar sein, ob ein Implantat zum Hörschaden des Patienten passt und es keine Kontraindikation wie zum Beispiel eine Verknöcherung des Innenohres gibt.

    Auch wenn man beim CI den Sprachprozessor wie ein Hörgerät hinter dem Ohr trägt: Das Kernstück ist ein Elektrodenbündel, das meinen Hörnerv elektrisch stimuliert. Ein Empfänger, der die Signale des Sprachprozessors drahtlos entgegen nimmt, sitzt hinter meinem Ohr unter der Haut. Eine Leitung wird von dort zum Innenohr gelegt. Dazu wird das Ohr von hinten an der Nahtstelle der Ohrmuschel geöffnet, sodass die Operation minimal invasiv durchgeführt werden kann.

    Um einen Kanal für die Leitung zu schaffen, muss in den Schädelknochen gefräst werden. Man kann sich das vorstellen, wie Kabel und Steckdosen oder Lichtschalter unter Putz zu verlegen. Das Gehirn selber ist hierbei nicht betroffen, trotzdem kann es bei einer Operation am Schädel zu einem Trauma kommen. Insgesamt ist die Operation eher unkritisch und belastet den Organismus wenig. Man wird 2 Tage danach schon wieder entlassen, ist danach aber zur Erholung noch eine Weile krank geschrieben.

    Die Operation selber ist eine ziemliche Fummelei, die etwa 3 Stunden dauert, schließlich muss nicht nur der Kanal gefräst werden, sondern auch das Implantat passgenau in die die spiralförmige, erbsengroße Cochlea eingeführt werden. Das „Millimeterarbeit“ nennen wäre schon viel zu grob. Noch während der Operation wird die Funktionsfähigkeit überprüft, indem Signale über das Implantat abgegeben werden und gemessen wird, ob die korrespondierenden Hirnströme auftreten.

    Die Operation wird unter Vollnarkose durchgeführt. Übrigens sollte man keine Angst vor Horrorgeschichten à la „Coma“ haben: Die Mortalität liegt laut Wikipedia bei 5 von 100.000 Narkosen. Regelmäßiges Autofahren ist gefährlicher. Nach der Operation trägt man einige Tage einen Druckverband und später einen einfachen Verband in einer Kopfbinde. Am Tag danach wird eine Röntgenaufnahme gemacht, um sicher zu gehen, dass das Implantat auch korrekt sitzt. Nach etwa 2 Wochen werden die Fäden gezogen, nach vier Wochen ist alles verheilt und der Sprachprozessor kann angepasst werden. Während dieser Zeit ist es nicht möglich, ein Hörgerät zu tragen.

    Ob und wie stark die Operation das meist noch vorhandene Restgehör mindert, ist unterschiedlich. Bei mir wurde es noch nicht gemessen. Wie es dann weitergeht, ist sehr unterschiedlich. Manche brauchen Tage, um Geräusche auseinander zu halten, andere verstehen von der ersten Minute an Sprache. Auf jeden Fall folgt ein mehrmonatiger Prozess, in dem sich das Gehirn nach und nach an das neue, elektrische Hören anpasst, welches mit der Zeit immer natürlicher klingt.

    Funfact am Rande (ich dachte erst, die Ärzte veräppeln mich): Es ist für die Dauer der Heilung verboten, sich die Nase zu putzen. Man sollte also einen Schnupfen vermeiden. Wer die Nase voll hat, muss hochziehen. Niesen kann in den ersten 1-2 Wochen schonmal ziemlich weh tun, ist aber ungefährlich. Von gelegentlich sehr lautem Tinnitus abgesehen, hatte ich in den ersten Wochen eine unangenehme Nebenwirkung: heftige Migräne-Attacken, zu denen ich sonst nie neige. Ich hoffe, dass das nach der zweiten OP nicht wieder passiert.

    All das war die drastische Verbesserung meines kaum noch vorhandenen Gehörs mehr als wert. Das einzige, was mich ärgert ist, dass ich mich nicht schon viel eher habe operieren lassen. Die folgenden Videos zeigen die Operation zusammgenfasst. Achtung, das ist nichts für schwache Nerven oder Mägen und könnte Angst machen!

  • Der Trend zum Zweitohr

    Lange habe ich hier nichts mehr zum Cochlea-Implantat geschrieben: Der Alltag hat mich zwischenzeitlich völlig aufgesogen. Ich machte Erfahrungen wie andere vor mir – ich bin immer noch schwerhörig und fliege manchmal vom Karussell, wie „Not quite like Beethoven“ das nennt. Der Unterschied zu früher: Wo kommunikativ gar nichts mehr ging, tut es heute meist ein einfaches Wiebitte. Ich hatte viele Gespräche auf Partys und in lauter Umgebung, die so früher nicht möglich gewesen wären. Ich habe getanzt, geflirtet und Wahlkampf gemacht, schaue YouTube-Filme ohne Untertitel (auch englische) und jetzt werde ich langsam das „Projekt Telefon“ in Angriff nehmen. Das CI hat mir sehr viel Leben zurückgegeben, das ich so schon gar nicht mehr (oder noch nicht) kannte.

    Oft hatte ich Glücksgefühle, manchmal war ich down, wenn es das Hören dann doch nicht perfekt war; aber rauschhaft muss man das deswegen nicht nennen. Ich höre ja ganz objektiv um Längen besser als früher. Immer neue Leute sagen mir, wie viel besser man heute mit mir reden könne, und wer mich gut kennt, sagt mir dazu oft noch, dass meine Stimme heute lebendiger und akzentuierter klinge.

    Gelegentlich gibt es Rückschläge, wenn ich müde bin oder einen schlechten Tag habe. Bei der letzten Anpassung trat eine ziemliche Verschlechterung ein – ich verstand plötzlich kaum noch etwas – , die sich aber leicht wieder rückgängig machen ließ.Da merke ich dann, dass mein Gehirn immer noch eine gegenüber dem natürlichen Gehör erhöhte Dekodierleistung erbringen muss. Zu viele gleichzeitige Klangeindrücke vermatschen immer noch gerne mal im berüchtigten „Wling„-Geräusch und Musik macht nur sehr bedingt Spaß. Sprachverständnis und auch Musikgenuss gehen besser, wenn ich nicht über Lautsprecher höre, sondern das CI direkt per Klinke an die Klangquelle anschließe.

    Spannend ist, was seither mit meinem linken Ohr passiert. Alles außer Musikhören ist nur noch Krach, der meistens mehr stört als hilft, besonders wenn man sich mit Menschen verständigen will. Das Sprachverständnis per Hörgerät ist massiv zurückgegangen auf einen kläglichen Rest – mein Gehirn akzeptiert den Akustik-Schrott der Maximal-Verstärkung nicht mehr. Gleichzeitig komme ich immer wieder in Situationen, wo ich etwas verstehe, wenn es von rechts kommt (CI-Seite), aber nicht oder nur schwer, wenn es von links kommt.

    Der Mensch hat zwei Ohren – ich schreibe diesen Blogpost schon im Krankenhaus. Morgen Vormittag wird operiert. Dann geht erstmal alles wieder von vorne los.

  • Erfolgreich arbeiten

    Arbeiten – das ist etwas, mit dem dank der erfolgreichen Politik unserer Regierung in letzter Zeit immer mehr Menschen in Kontakt kommen. Für alle, die sich tiefergehend mit dem Thema auseinander setzen wollen, empfehle ich die hervorragende Broschüre „Erfolgreich arbeiten“ (PDF) der Bundesregierung, die übersichtlich und leicht verständlich einen Einstieg in die Materie vermittelt.

  • Google+ verweigert mir, meinen echten Namen anzugeben

    Wie ihr sicher mitbekommen habt, habe ich letzterdings einigen „Spaß“ mit Google+. Nachdem sie „Die Ennomane“ zum zweiten mal gesperrt haben, verfahre ich nach dem Motto: Wenn ich schon nichts echtes unter Pseudonym schreiben darf, dann schreibe ich eben Blödsinn unter Klarnamen.

    Wie absurd Googles Policy ist, sieht man aber daran, dass ich jetzt meinen echten, wirklich wahren, bürgerlichen Personalausweis-Namen nicht angeben darf. Bei dem Versuch, das zu tun, erhalte ich folgende Fehlermeldung: