Kann jedem Gehörlosen mit dem Cochlea-Implantat geholfen werden?

tldr: Nein.

ciherz

Bald ist es zwei Jahre her, dass mir das erste Cochlea-Implantat eingepflanzt wurde. Wer mich kennt, kennt meine Begeisterung, weil ich sich die Freiheitsgrade in meinem Leben in ungeahntem Maße vermehrt haben. Dazu demnächst  mehr. Für manche entsteht da der Eindruck, man könne ein kaputtes oder nicht vorhandenes Gehör einfach reparieren. Das ist natürlich nicht so.

Sehr viel hängt davon ab, dass das Gehirn in den ersten Lebensmonaten und -jahren passende Strukturen herausbildet. Vereinfacht gesagt: Wer als Kleinkind nicht hören lernt, wird das auch im Erwachsenenalter nicht mehr tun. Zwar gibt es auch da einzelne Erfolgsgeschichten, aber unter Gehörlosen überwiegt der Frust. Sie hören, aber ihr Gehirn kann mit dem Gehörten wenig einfangen. Auch nach langem Training ist Hören oft mühsam und Sprache wird kaum verstanden.

Manche Gehörlose finden sich damit ab und freuen sich einfach, dass sie wenigstens in der Lage sind, Geräusche zu hören und zuordnen zu können, was das Alltagsleben ja durchaus erleichtert. Andere sind tief verunsichert: Sie haben sich einer Operation unterzogen, eine lange Reha gemacht, sich wirklich viel Mühe gegeben – aber sie können immer noch nicht mithalten. Nicht mal ansatzweise. Sie suchen den Fehler bei sich selbst, verzweifeln, hören auf, das Cochlea-Implantat zu tragen und ziehen sich erst recht in die Gehörlosenkultur zurück. Wer würde es ihnen verübeln?

Das wichtigste ist, das Cochlea-Implantat als so etwas ähnliches wie einen Rollstuhl zu begreifen. Es gibt gute und schlechte Rollstühle. Es gibt Menschen, die im Rollstuhl Behindertensport machen und andere, die sich nur damit fortbewegen können, wenn ein Joystick daran angebracht ist.

Das Cochlea-Implantat ist eine Reparatur. Eigentlich ein negatives Wort, schwingt doch die Angst mit: Wo man Menschen „repariert“, optimiert man sie für die Erfordernisse der Gesellschaft oder gar Ökonomie. Selbstverständlich ist es ein Skandal, wenn Teenagern der Gebärdensprachedolmetscher verweigert wird mit dem Hinweis, sie sollten sich halt operieren lassen. Ich kenne solche Fälle nur vom Hörensagen und vermute, dass hier gar nicht mal ignorante Sachbearbeiter am Werk sind, sondern eine Ebene höher auf politischer Ebene anzusetzen ist.

Wer – wie ich – das Gehör verliert, der vermisst etwas. Dessen Körper funktioniert nicht mehr so, wie er sollte. Wenn das passiert, gehe ich zum Arzt und lasse mich „reparieren“. Mit „Normal-Sein“ hat das wenig zu tun. Viele Menschen empfinden mich durchaus als nicht normal, als Freak. Manchmal sind Nerds begeistert und leicht neidisch, weil sie auch Cyborgs sein wollen, manchmal ernte ich komische Blicke, was ich da für Gerätschaften trage. Laute abfällige Bemerkungen habe ich allerdings schon seit den 80er oder 90er Jahren nicht mehr gehört. Und da trug ich noch – ebenso sichtbar – Hörgeräte.

Wer gehörlos geboren ist und eingebettet in die Gehörlosenkultur lebt, dem fehlt natürlich nichts. An ihm gibt es nichts zu „reparieren“. Und selbstverständlich müssen wir akzeptieren, wenn die Menschen so leben wollen und ihnen als Gesellschaft das Leben nicht unnötig erschweren. Ich greife nur ein Beispiel heraus: Untertitel. Die helfen ja so viel mehr Menschen, als nur Gehörlosen, zum Beispiel Migranten beim Spracherwerb. Oder die elektronischen Anzeigetafeln, die in der Tram die nächsten Haltestellen zeigen und für alle praktisch sind. Barrierefreiheit ist ein viel größeres Thema.

Für spätertaubte und stark schwerhörige Menschen ist das Cochlea-Implantat eine großartige Hilfe. Ich erziele im Sprachtest mittlweile 100% unter Laborbedingungen, mein Audiologe sagt mir aber auch, dass ich damit zur Spitzengruppe gehöre. Mein Gehirn hat auf das CI reagiert wie ein vernachlässigter Hund, der endlich wieder apportieren darf, aber es gibt auch Leute, die mit dem CI trotz guter Disposition einfach nicht klarkommen – wie bei Hörgeräten übrigens auch und so ziemlich allen Medikamenten und Prothesen, die bisher so entwickelt wurden.

Gehörlose, schwerhörige und überhaupt behinderte Menschen brauchen mehr Barrierefreiheit. Das Cochlea-Implantat ist die Chance, eine Barriere direkt am Individuum selbst zu senken. Es ist aber ganz sicher keine Ausrede dafür, an anderen Stellen nicht mehr auf Barrierefreiheit zu achten. Und es ist keine Rechtfertigung, Druck aufzubauen, sich operieren zu lassen. Das muss man schon selber wollen.

Man stelle sich einen Forscher vor, der fließend Englisch spricht. Die Sprache ist essenziell für seine Arbeit und sein Leben. Dann kommt eine böse Fee und nimmt ihm diese Fähigkeit weg. Er muss sein Leben umstellen. Ihm fehlt etwas bedeutendes, er muss sich völlig anders arrangieren und ist unglücklich. Und wenn dann die gute Fee kommt, um ihm seine Englisch zurückschenkt, wird er dankbar und glücklich sein. Jemand anderes hasste Englisch schon in der Schule, wird die Sprache in diesem Leben sowieso nicht mehr richtig lernen und will das auch gar nicht. Den sollten wir nicht mit Englisch-Unterricht quälen, sondern ihm die Chance geben, eine Nische im Leben zu finden, mit der er glücklich und zufrieden sein kann.


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