Kein Präsident für Piraten

Ja klar, 2010 habe ich Joachim Gauck unterstützt. Er erschien mir als integre und präsidiable Persönlichkeit, vor allem auch im Kontrast zu Christian Wulff. Bürgerrechtler und Regime-Gegner zu DDR-Zeiten, redet meistens Klartext, Demokrat und liberal, Verantwortung und Initiative der Bürger unterstreichend – das muss ein Pirat doch gut finden! Leider gibt es da ein paar Punkte…

  • In dem Interview beispielsweise, in dem Gauck dem Rassisten Sarrazin Mut attestiert, distanziert der Gauck sich zwar von Sarrazins Biologismus und legt der SPD verklausuliert nahe, ihn rauszuwerfen. Das hindert Gauck aber nicht daran, ähnliche Thesen an anderer Stelle zu vertreten. Die Piratenpartei fordert Integration und lehnt die Ausgrenzung von Mitmenschen aufgrund ihrer Herkunft ab.
  • Gauck  bezeichnet die Kapitalismus-Kritik und Occupy-Proteste der letzten Monate als „albern“. In der Piratenpartei gibt es keine Beschlüsse zu dem Thema, aber viel Sympathie für Occupy. Noch wichtiger: Die Piratenpartei steht dafür, genau hinzuhören, wenn Bürger auf die Straße gehen. Eigentlich sollte Joachim Gauck mit seiner DDR-Biographie das auch tun, anstatt die Kritiker verächtlich zu machen.
  • Ganz ähnlich sieht es mit Hartz IV aus. Joachim Gauck erscheint geradezu beleidigt, dass sich die Bewegung gegen Hartz-IV den Namen „Montagsdemonstrationen“ gab und nennt sie kindisch. In der Piratenpartei hingegen gibt es mittlerweile den Beschluss, Hartz IV zu humanisieren.
  • Zentraler Punkt für die Piratenpartei ist jedoch, dass Gauck ein Befürworter der mitterweile vom Verfassungsgericht kassierten Vorratsdatenspeicherung ist. Man könnte glatt meinen, Gauck halte staatliche Überwachung für weniger schlimm, sobald sie nicht mehr durch einen sozialistischen Staat ausgeübt wird.
  • Natürlich findet es Gauck als DDR-Bürgerrechtler gut, dass Abgeordnete der Linkspartei vom Verfassungsschutz bespitzelt werden. Zum Versagen in Sachen Rechtsterrorismus und offenbar gar gezieltem Wegsehen der Ermittlungsbehörden und Geheimdienste hingegen ist keine Äußerung von Gauck überliefert – stattdessen aber die Ansicht, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze sei grobes Unrecht gewesen.

Man sieht: Gauck ist ein zutiefst konservativer Mensch, für den die Zeit 1989 stehen geblieben sein muss. Er ist der Kandidat für den Neoliberalismus vergangener Jahre, aber keiner für die Probleme der Gegenwart. Natürlich kann man Gauck trotz allem noch gut finden, allerdings sollte man sich klar gemacht haben, wofür er steht.  Gauck wäre nicht der erste Rechtsaußen-Präsident in der Geschichte und vermutlich auch nicht der schlechteste. Für Piraten ist er schlicht und ergreifend nicht wählbar.

Nun ist relativ egal, was die Piraten denken, da sie ja sowieso nur 2 von über 1200 Sitzen in der Bundesversammlung haben. Trotzdem sollte es Aufgabe der Piraten sein, daran zu erinnern, dass hier ein Demokratieversagen großen Ausmaßes stattfindet. Die Präsidentschaftskandidaten sollen eigentlich von den Wahlleuten oder Fraktionen aufgestellt und gewählt werden. Hier jedoch wird ein Einheitskandidat von einer größtmöglichen Einheitskoalition präsentiert, was den Wahlleuten jede Chance zur Wahl nimmt und sie zu bloßen Abnickern macht. In der DDR nannte man sowas Blockflöten.

In dieser Situation wäre es gut, die Wahlleute der Piraten schlügen – enventuell auch in Zusammenarbeit mit der Linken – eine konsensfähige und  integre Persönlichkeit vor, die von (nahezu) allen Parteien wählbar ist, eine echte Alternative zu Joachim Gauck darstellt und Wahlleuten sämtlicher anderer Parteien die Gelegenheit gibt, gegen einen oktroyierten Einheitskandidaten zu stimmen. Meiner Meinung nach wäre Hans-Jürgen Papier ein hervorragender Kandidat (der Gerüchten zufolge nicht abgeneigt sei). Das wäre dann jemand, bei dem sich wenigstens ein Teil der Bundesversammlung fragen muss: „Warum genau wähle ich den Gauck jetzt eigentlich?“.

Update: Oder – ebenfalls eine hervorragende Idee – Christian Führer.

Update: Es gibt noch ein Problem: Laut Wikipedia hatte Gauck November 1988 Besuch von der Stasi, worauf hin diese auf weitere Maßnahmen gegen ihn verzichtete, nachdem sie ihn jahrelang oberserviert hatte. Offenbar wird Gauck verdächtigt, irgend eine Form von Deal mit der Stasi geschlossen zu haben. Laut Gießener Zeitung genoss Gauck in der DDR eine Reihe von Privilegien. Im Sommer 1991 konnte er sich stundenlang mit seiner Akte im Rostocker Bezirksarchiv einschließen, was rechtswidrig war. Auch wenn der Artikel in der Gießener Zeitung in eine absurde Verharmlosung der Stasi gipfelt, sind das Verdächtiungen, die besser vor der Wahl erschöpfend geklärt werden sollten. Wäre doof, wenn wir in ein bis zwei Jahren schon wieder einen Nachfolger für ihn wählen müssten…

Update: Anatol Stefanowitsch anaylsiert sehr schön, warum die Gauck-Zitate zwar verkürzt sein mögen, sie unterm Strich aber sehr wohl aussagen, was ihnen zunächst untestellt wurde.

Update: Ich habe das ganze nochmal für den „European“ zusammengefasst. Dort gehe ich auch nochmal auf den Vorwurf ein, die Zitate seien aus dem Kontext gerissen.


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