Ich fühle mich diffamiert

In diesem ganzen Kuddelmuddel, diesem Kulturkampf zwischen Netizens und Ausdruckern, taucht immer wieder der Kampfbegriff „Onlinesucht“ auf. Ich habe ihn mal auf der Wikipedia nachgeschlagen. Ich weiß nicht, welchen wissenschaftlichen Standards diese Definition von Sucht eigentlich genügt – ich weiß nur, dass ich mich dadurch diffamiert fühle.

Ja, ich verbringe täglich viele Stunden mit dem Internet. Nach den gängigen Definitionen wäre ich wohl ein Schwerstabhängiger. Und ich leugne auch gar nicht, dass ich mich unwohl fühle, wenn ich längere Zeit meine Mail nicht überprüfen kann. Erlaube mir aber mal die Gegenfrage: Wie geht es Ihnen, wenn Ihr Telefon für – sagen wir – 2 Tage nicht geht? (Denken Sie bitte auch an früher zurück, als Sie noch kein Handy hatten.)

Unter Sucht verstehe ich ein zwanghaftes Verhalten. Was ist aber daran zwanghaft, wenn ich mir den Weg in die Bibliothek spare und online für meine Diplomarbeit recherchiere? Was ist zwanghaft daran, den Fahrplan des HVV im Netz aufzurufen, statt umständlich in einem dicken Papierwälzer herumzublättern, der ständig veraltet? Oder einen Online-Stadtplan anstelle eines Faltmonsters aus Papier zu benutzen?

„Im Internet sein“ ist nicht diese eine Sache, von der man abhängig sein könnte. Sie setzt sich aus vielen verschiedenen einzelnen Tätigkeiten zusammen. Arbeit, Freizeit, Alltagsdinge, Freundschaften… Wonach man vielleicht süchtig werden kann, sind bestimmte Dinge im Internet. Zum Beispiel Multiplayer-Spiele oder Online-Poker um echtes Geld vielleicht. Dinge, die es auch schon vor dem Internet gab. Aus der Tatsache, dass jemand viel und lange im Netz unterwegs ist, lässt sich gar nichts schließen, solange man nicht auf darauf schaut, was er eigentlich da macht.

Besonders schwer wiegt aber die Frage: Was sind soziale Kontakte im Netz wirklich wert? Menschen, die keine Ahnung vom Netz haben, nennen es gerne „virtuell“. Aber das Netz ist keine Scheinwelt. Normalerweise fährt der nächste ICE nach Berlin tatsächlich um 14.53 und nicht bloß „virtuell“, nur weil ich auf bahn.de nachsehe, statt den Fahrplan im Bahnhof zu studieren.

Alle Menschen da draußen, mit denen ich kommuniziere, sind echt. Die Kommunikation ist echt. Genauso wie die langsam auf diese Weise entstehenden Freundschaften echt sind. Oder meine Arbeitsergebnisse echt sind. Oder die Pizza echt ist, die mir der Bringdienst auf meine Internet-Bestellung hin liefert.

Manche sagen, ihnen würde es fehlen, von Angesicht zu Angesicht miteinander zu reden. Ich halte das für eine kulturelle Frage. Schon das Telefon schafft eine technische Distanz, die wir emotional mühelos überbrücken. Tatsächlich führt Gruppenbildung im Internet fast immer dazu, dass die Mitglieder der Gruppe sich auch mal real treffen wollen. Gamer verabreden sich zu LAN-Partys. Twitterer veranstalten Tweetups. Xing-Gruppen treffen sich zu Visitenkartenpartys. Und Hamburger Blogger monatlich zum Störteblogger.

Eines aber schenkt mir das Internet, das mir das Offline-Leben nicht ersetzen kann. Da ich nunmal schlecht höre und sich das besonders in lauter Umgebung und Stimmengewirr bemerkbar macht, brauche ich viel länger, um Bekanntschaften und Freundschaften zu schließen. Gehe ich zum Tweetup, Piratentreffen oder Störteblogger, wo ich viele immer schon aus dem Netz kenne, bin ich sofort mittendrin. Und wenn ich dann mal irgendwas nicht richtig mitbekomme, ist das kein Drama. Wir klären das einfach später per Mail.

Ich halte das Internet für die größte technische Errungenschaft der Menschheit seit sehr langer Zeit. Es hat ein gewaltiges Potential, was Wissen, Kommunikation, Kultur, Politik, und, und, und betrifft. Das Internet ist keine Sucht und keine Tätigkeit, es ist Teil (nicht nur) meiner Welt. Mein Lebensraum. Und ich werde sehr leicht bösartig, wenn Internet-Ignoranten versuchen, dilletantisch in diesen Lebensraum einzugreifen.

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