4. Mär 2002, Kinopolis, Hamburg
Johnny Depp hat als kotelettenbewehrter Dandy des ausgehenden 19. Jahrhunderts opium- und absinthschwere Visionen voller Blut und Gemetzel. In stroboskopartig aufblitzenden Bildern zischen Messer durch die Luft und fliegen Blutspritzer umher. Als die erste Prostituierte grausam zugerichtet aufgefunden wird, ist nicht nur klar, dass diese Visionen nicht nur einfach Bilder eines Drogenrausches waren. Im Herbst 1888 beginnt in London die erste von der Boulevard-Presse gehypte Massenhysterie. Und ein Mythos ist geboren: Jack the Ripper.
Bald ist Johnny Depp alias Inspektor Abberline auf der Suche nach dem Geheimnisvollen Mörder. Das Puzzlespiel führt durch ein London voller Dreck, Suff, Syph und Abgründe. Wir begegnen der Queen und ihrem Hofstaat genauso wie verlebten Huren in zwielichtigen Kneipen. Und nicht nur erzählerisch sondern auch visuell zeigt der Film in genial komponierten Bildern wie marode und innerlich dekadent das Weltreich ist, dessen Niedergang sich allmählig am Horizont abzeichnet. Dabei werden alle Register gezogen: London und sein Stadtteil Whitechapel erscheinen als Menagerie aus Elephantenmensch und Dandy, Hure und Adel, Menschlichkeit und Snobismus, vordergründiger Rechtstaatlichkeit und tiefer Doppelmoral, Freidenkertum und Freimarerei, Juden und Huren.
Gewohnt gekonnt verkörpert Johnny Depp den weltabgewandten Romantiker, der hier ein Leben als eine Art „Ur-Hippie“ führt. Die Ähnlichkeiten zur Rolle in „Sleepy Hollow“ sind nicht zu übersehen und Johnny Depp sollte allmählig Sorge tragen, dass er nicht in den ewig gleichen Rollen verkommt, wie es John Wayne oder Humphrey Bogart passierte. Dass man ihn in dieser Rolle ein weiteres mal akzeptiert und faszinierend finden kann, liegt aber nicht nur an der schaurig-schönen Geschichte sondern auch an den vorzüglichen Darstellern. Zum Beispiel Robbie Coltrane als gutmütig dickbäuchiger Polizeikollege auf der Verbrecherjagd. Oder Ian Richardson als humorloser und steifer Polizeichef, der schonmal Beweismittel vernichten lässt, wenn dies zu seinen Absichten passt, und ansonsten wenig Anstoß an den Taten Jach the Rippers nimmt, solange er dafür sorgt, dass ein paar Huren weniger die Straßen bevölkern. Und gewohnt erstklassig Ian Holm (zuletzt als Bilbo in „Herr der Ringe“) als alternder Chirurg und Leibarzt der Royals.
Wunderschönes Design, brillante Regie, hervorragende Darsteller virtouse Kameraarbeit schreien alle zusammen nach der perfekten Story für ein perfektes Meisterwerk und genau hier hapert es doch ein wenig. Nicht nur dass gerade Inspektor Abberline als Hauptcharakter trotz aller Drogeneskapaden seltsam farblos und uninteressant bleibt, und der Geschichte unter dem vordergründigen Puzzlespiel wenig Tiefe besitzt. Der Filmfan kann sich mit der Zeit schon ein wenig ärgern, dass „From Hell“ im Grunde nichts weiter als ein klassischer Cop-Film mit toller Staffage aber ansonsten den üblichen Versatzstücken ist. Völlig egal, ob London 1888, Chicago 1938 oder Los Angeles 1995 – Cops kämpfen gegen korrupte Vorgesetzte, werden von Gangstern zusammengeschlagen, im dramaturgisch besten (also heute doch langsam witzlosesten) Moment vom Dienst suspendiert usw. – musste das wirklich sein? „From Hell“ hätte es ausgesprochen gut getan, wenn der Fortgang der Geschichte auch in seinen Details genretypisch verlaufen wäre und Johnny Depp etwas mehr Sherlock Holmes und etwas weniger ein umgetopfter L.A.-Cop gewesen wäre.
Ein weiterer Kritikpunkt: Was taugt eine opulente Optik, wenn sie reiner Selbstzweck ist? Seit den frühen 1990er Jahren hat sich ein dreckig-ekeliger Stil herausgebildet, der mit matten Farben und extremen Kontrasten spielt, den Himmel schonmal blutrot färbt und mit vorliebe bröckelndes Putz und verrottendes Laub als Hintergrund verwendet. Egel ob „Seven“, „Interview mit einem Vampir“, „Dracula“ oder „Das Schweigen der Lämmer“ – dieser Stil war einst innovativ – ist aber heute eher ein Manierismus. Und könnte schon sehr bald einfach eine neue Form von Kitsch sein.
Die Kritikpunkte klingen härter, als sie gemeint sind: „From Hell“ ist trotz allem ein nicht nur visuell außerordentlich schauriger Genuss und eine wundervolle Hommage an die alten Horrorfilme der Hammerstudios, an Vincent Price und Edgar-Allen-Poe-Trash. Und „From Hell“ befindet sich erzähltechnisch wie visuell vollkommen auf der Höhe der Zeit und ist sicher einer der besseren Filme des Jahres. Außerdem ist er zumindest über weite Strecken very british – Charles Dickens auf Drogen sozusagen.
USA 2001, 122 min
mit Johnny Depp, Heather Graham, Ian Holm, Robbie Coltrane, Ian Richardson, Jason Flemyng, Katrin Cartlidge, Terence Harvey, Susan Lynch, Lesley Sharp, Annabelle Apsion, Bryon Fear
Regie: Albert Hughes, Allen Hughes