Als Liquid Feedback entwickelt wurde, stellte sich schnell die Frage, wie man verhindert, dass ein Wahlcomputer draus wird. Wir erinnern uns an die Wahl von George W. Bush im Jahr 2000, die heute noch von vielen angezweifelt wird und bei der Wahlmaschinen eine unrühmliche Rolle gespielt haben. Wahlcomputer sind extrem manipulationsanfällig. Der CCC hat das hier sehr gut zusammengefasst. Wenn es also darum geht, irgend eine Form von Wahlcomputern zu verwenden, kann die Antwort nur heißen:
NO. FUCKING. WAY.
Nun besteht aber ein hoher Leidensdruck in der Piratenpartei, Basisdemokratie (oder wie ich lieber sage: Mitgliederdemokratie) umzusetzen. 1400 Seiten Antragsbuch für den nächsten Bundesparteitag sprechen für sich. In Bochum wird aus Zeitgründen wieder nur über einen kleinen Teil der Anträge abgestimmt und zwar von höchstens 2560 Personen. Direkte Demokratie stößt da schnell an ihre Grenzen. Versammlungen sind naturgemäß begrenzt, während eine Teilnahme an Abstimmungen über das Internet zeitlich und räumlich entzerrt eine breitestmögliche Beteiligung erlaubt. Liquid Feedback ist dafür hervorragend geeignet, zumal meine Stimme dank Delegation nicht verloren geht, wenn ich mal keine Zeit habe.
Bauen wir damit nicht einen Wahl- bzw. Abstimmungscomputer? Genau das tun wir – aber es gibt eine Möglichkeit, das eingangs beschriebene Problem zu umgehen: Das Open-Source-Prinzip anwenden. Jeder Teilnehmer muss alles zu jeder Zeit kontrollieren können. Von der verwendeten Software über die Stimmberechtigung und Identität aller Teilnehmer bis hin zur Abstimmung muss jeder Einblick in sämtliche Details bekommen. Das System muss vollkommen offen betrieben werden. Das bedeutet auch, dass alle Teilnehmer von allen anderen identifiziert werden können. Dafür benutzen wir mangels besserer Alternativen den Namen, der im Personalausweis steht.
Hier wenden Kritiker aber ein, das Demokratieprinzip sei verletzt. Wahlen und Abstimmungen müssten frei, gleich und geheim sein. Auf Versammlungen ist das kein Problem: Es ist allgemein akzeptiert, dass Abstimmungen offen durch Heben einer Stimmkarkte und nur in Ausnahmefällen auf Antrag geheim durchgeführt werden, wenn die Mehrheit der Versammlung dafür ist. Lediglich Personenwahlen werden grundsätzlich geheim durchgeführt. Es hat also Gründe, warum sämtliche Personaldiskussionen in Liquid Feedback verpönt und verboten sind. Es spricht aber nichts dagegen, Liquid Feedback als eine Form der ständigen Mitgliederversammlung mit offenen Abstimmungen zu benutzen.
Trotzdem haben die Kritiker recht, wenn sie ein Wahlgeheimnis einfordern. Als Lösung wird die Verwendung von Pseudonymen angesehen, gerne kombiniert mit einer „Tresorlösung“, bei der die Feststellung der Identität von Teilnehmern nur durch wenige befugte Personen möglich ist. Eine solche Lösung ist nur ein Kompromiss: Die Nachvollziehbarkeit des System wird stark behindert, ohne dass ein Wahlgeheimnis hergestellt würde. Auch hier kann eine Person in ihrem Abstimmungsverhalten „überwacht“ werden, die Daten liegen ja im Tresor. Vereinfacht gesagt: Wenn jeder nachträglich doch rauskriegen kann, wer wie abgestimmt hat, verhindert das weder sozialen Druck noch von den „Nazis der Zukunft“ an die Wand gestellt zu werden. Aus diesem Grund werden auch im kommenden Liquid Feedback für Pankow die Abstimmungsdaten nach einem Jahr gelöscht.
Das Wahlgeheimnis müssen wir also irgendwie anders sicherstellen, ohne vom System zu verlangen, was es nicht leisten kann. Eine geheime Abstimmung muss also komplett außerhalb des Systems stattfinden. Eine denkbare Lösung wäre, innerhalb von Liquid Feedback ein Regelwerk „Vertagen in geheime Abstimmung“ einzuführen. Damit kann jede Abstimmung für nichtig erklärt und auf die nächste Gebietsversammlung vertagt werden, wo sie automatisch geheim abgestimmt wird, sobald ein festzulegenden Quorum erfüllt ist. Das Quorum darf nicht zu niedrig sein, damit keine Einzelpersonen das ganze System trollen können, aber auch nicht zu hoch, um den Minderheitenschutz zu gewährleisten.
Wichtig wäre noch, dass sich die entsprechende Mitgliederversammlung verpflichtet, die geheimen Abstimmungen auch durchzuführen. Das ist übrigens mit relativ wenig Aufwand möglich: Statt jeden Antrag nochmal durchzukauen, wird einfach zu Beginn der Versammlung ein Stimmzettel mit allen Streitfragen ausgeteilt, der wie ein Multiple-Choice-Test ausgefüllt werden kann. Die Stimmabgabe erfolgt in der ersten Versammlungspause, die Auszählung während oder nach der Versammlung. Natürlich öffentlich. Auch elegant an der Lösung ist, dass sie nachträglich auf bereits laufenden Systeme angewandt werden kann. Liquid Pankow kann trotzdem sofort starten.
P.S.: Briefwahlmodelle sind natürlich auch denkbar. Wir brauchen ja sowieso noch einen Mechanismus für Urwahlen. Aber das ist ein anderes Kapitel und soll ein andermal erzählt werden.