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    Jane Austen’s Fight Club

  • Wie wir die Kontrolle über den Kontrollverlust verlieren

    Es ist schon interessant, dass die Debatte um Privatheit, Kontrollverlust und Datenschutz ausgerechnet wegen der Wikileaks-Veröffentlichung der Afghanistan-Dokumente eine neue Wendung nimmt – sind das doch keine privaten Dokumente sondern welche von höchst öffentlichem Interesse.

    Der Gedanke des Kontrollverlusts besagt, dass Datenschutz ein reines Rückzugsgefecht sei. Selbst wenn wir nicht unseren Seelenmüll auf Facebook und Twitter abkippen, hinterlassen wir im Netz durch ganz alltägliche Tätigkeiten eine breite Datenspur, die viel über uns aussagt. Das lässt sich nicht mehr zurückdrehen: Wir haben die Kontrolle über unsere Daten oder das, was die Welt über uns weiß, verloren. Michael Seemann et al. nehmen die progressive Haltung ein und sehen die mannigfaltigen Vorteile, die uns das verschafft. Sie wollen aus der Not eine Tugend machen und sagen, die Antwort auf den Kontrollverlust eine Kultur des Filterns und Nichtbeurteilens, die es uns erlaubt, darüber hinweg zu sehen, dass ein Mitmensch eine politische Meinung vertritt, die wir unmöglich finden, eine sexuelle Orientierung hat, die wir pervers finden, oder auch einfach nur ein Alkoholproblem.

    Im Grunde läuft es auf das Konzept des Outings hinaus: Erst der Gang an die Öffentlichkeit bis hin zum Stolz, die Gay Pride und dem Christopher Street Day konnten zum Beispiel die Homosexualität aus dem Schattenreich in die Normalität führen. Damit ist im Grunde der Beweis erbracht, dass ein solcher kultureller Wandel machbar ist, wenn das ihm zu Grunde liegende gesellschaftlich verpönte Verhalten nur häufig genug sichtbar wird.

    Aber es gibt auch die andere Seite, zum Beispiel die ökonomischen Interessen unserer Arbeitgeber, die uns gerne einen lieben Menschen sein lassen, so lange wir nicht irgendwas treiben, was vielleicht dem Image der Firma schaden könnte. Ich habe kürzlich erst einen Mikrokontrollverlust erlebt, als ich über den „Auschwitz-Tanz“ schrieb und wie geschmacklos ich ihn finde, wofür ich dann selbst in die braune Ecke gestellt wurde, weil ich angeblich Auschwitz mit einem Verkehrsunfall verglichen hätte – dabei ging es mir nur um den Umgang mit Trauer und Toten.

    Meine (konservative) Befürchtung: Es wird immer Ansichten und Verhaltensweisen geben, die wir besser für uns behalten oder nur im kleinen Kreis offenbaren, weil es immer kleine oder große Gruppen in der Gesellschaft geben wird, die uns für etwas ablehnen werden, vollkommen egal, ob legitim oder oder nicht. Der Kontrollverlust betrifft nämlich nicht einfach nur unsere Daten, sondern die Art, wie die Welt mit uns umgeht. Beispiele für Schubladen-Denken (etwas, das wir ebenfalls schon aus psychologischen Gründen nie bleiben lassen können) und Sündenbockmentalität gibt es ohne Ende. Und die Schicht der Aufgeklärtheit ist sehr sehr dünn, wenn neubürgerliche Eltern tunlichst dafür sorgen, dass ihre Kinder in Schulklassen mit niedrigem Ausländer-Anteil landen.

    Wer also der Ansicht ist, dass wir das Geheimnis brauchen, wurde in der Kontrollverlustdebatte als Gestriger hingestellt, der nicht den Verlust des Geheimnisses beklagen sondern offensiv für sich und sein Sein einstehen soll. Nur wenige Menschen sind jedoch so stark, unabhängig und frei von Bindungen, dass sie es sich erlauben können, mit Kampf oder einer Egal-Haltung auf Ablehnung zu reagieren. Statt einer Kontrolle über das Bild, das man vermitteln möchte, propagiert zum Beispiel Michael Seemann die Plattformneutralität – alles wird transportiert und wir filtern weg, was wir nicht sehen wollen. Das ist im Grunde genommen eine Kultur des Wegsehens und birgt den nächsten Konflikt in sich: Wenn wir etwas sehen und es uns nicht gefällt – können wir dann immer darüber hinweg sehen? Welche Instanz will beurteilen, ob es sich bei dem, was wir wegfiltern, um eine berechtigte Eigenheit des Mitmenschen handelt, die uns nichts angeht, oder aber um einen Missstand, welcher möglichst öffentlich anzuprangern ist? Ich prophezeie endlose Streitigkeiten darüber. Nicht immer ist die Lage schon so einfach und klar entschieden wie vielleicht beim Thema Homosexualität.

    Interessant ist, dass der Kontrollverlust jetzt Muffensausen auf anderer Ebene bekommt. Da wäre einmal Wikileaks, worüber geheime Dokumente über den Afghanistan-Krieg veröffentlicht wurden – einige aber auch erstmal unterdrückt, um die Whistleblower zu schützen. Das ist ein staatlicher Kontrollverlust, und plötzlich ist die Angst da: Welche schädlichen Auswirkungen kann ein schonungsloses „wir veröffentlichen einfach alles“ haben? Wie lange werden sich so mächtige Institutionen wie CIA oder Pentagon es sich gefallen lassen, dass ihnen das Volk im Internet auf der Nase herumtanzt? Ich bin mir ziemlich sicher, dass gerade jetzt schon irgendwo ein Gremium tagt und sich Gedanken macht, wie man diese Freiheit im Internet wieder unter Kontrolle bringen kann. Und ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis irgendwo der erste Netzaktivist von einem Geheimdienst liquidiert wird. Sowas passiert, man denke nur an die Caesarea des Mossad. Gleichzeitig entzündete sich die Frage anhand der Bilder, die kürzlich von der Duisburger Loveparade aufgetaucht sind. Sie sind so intensiv und furchtbar, dass man sich fragen musste, ob man sie überhaupt weiterverbreiten solle.

    Ich stimme hier mit Huck Haas überein: Die Öffentlichkeit hat jenseits jeder Katastrophengaffermentalität ein Recht auf die Bilder. Genauso wie die Öffentlichkeit ein Recht auf die wahren Umstände des Afghanistan-Krieges hat. Jedenfalls sollte es in einer Demokratie so sein. Trotzdem ist die Diskussion darüber mehr als legitim – man denke nur an die öffentliche Vorverurteilung in den Fällen Kachelmann oder Tauss. Ab wann beginnt Information schädlich zu sein? Wenn aber die Frage nach dem Geheimnis und seinem Schutz nun plötzlich bei öffentlichen Angelegenheiten eine so große Rolle spielt, kann man die gleiche Frage auf der kleinen, unbedeutenden, privaten Ebene nicht einfach so abtun und auf die eher vage Hoffnung auf kulturelle Anpassung verweisen. Wir ahnen jedenfalls bereits, dass wir über den Kontrollverlust die Kontrolle verlieren.

  • The Prisoner ist in der arte-Mediathek öffentlich

    Die Kultserie „The Prisoner“ (hierzulande „Nummer 6“) ungekürzt auf arte bzw. in der Mediathek – das freut mich riesig. Oder würde mich riesig freuen, wenn sie nicht einmal mehr die Untertitel weggelassen hätten. Dafür kann man zwischen deutscher und französischer Synchro wechseln. Unbrauchbar. Update: Und nach 7 Tagen wars dann wieder weg…

  • Wie christlicher Fundamentalismus die Toten der Loveparade instrumentalisiert

    19 Menschen starben auf der Loveparade. Twitter war gestern zeitweise unerträglich. Alle Verhaltensweisen angesichts von Katastrophen, auch die ekelhaften, liefen da durch meine Timeline. Über die verbalen Autobahngaffer und Witzereißer will ich hier gar nichts weiter sagen. Sie gab es offenbar immer und wird es immer geben. Sensationslust ist uns wohl angeboren, auch wenn einige Besonnene unter uns versuchen, sie zu unterdrücken. Außerdem kann Sarkasmus und schwarzer Humor eine Strategie sein, sich emotional vor etwas zu schützen, das einem sonst zu nahe geht, oder es zu verarbeiten.

    Dass Meckereien über die schlechte Berichterstattung und überforderte Fernsehmoderatoren angesichts eines solchen Unglücksfalls interessante Einblicke in die Herzlosigkeit mancher Kommentatoren geben, war auch zu erwarten. Mir geht es um einen anderen Typ Timeline-Bewohner, der mit seinen Äußerungen auf Trauer und Betroffenheit selbst abzielt. Trauern tun wir eigentlich nicht – Trauer ist das Gefühl eines schweren, persönlichen Verlustes, den wir erst einmal verarbeiten müssen. Trauern werden die Angehörigen, was wir aber haben können, ist Mitgefühl. Auf Twitter machte sich gestern Entsetzen und beredte Sprachlosigkeit breit, als die Nachricht von der Loveparade kam. Man nennt das auch „sich betroffen fühlen“.

    „Betroffen“, das ist so ein Wort aus dem Gutmenschen-Vokabular. Wer es gebraucht, riskiert, dass ihm Falschheit unterstellt wird. Mag sein, dass die Betroffenheit zur Floskel verkommen ist, weil es die Political Correctness gebietet, in bestimmten Situationen Betroffenheit zur Schau zu stellen. Flugs stellten sich die ersten Beschimpfungen ein. Wer sich auf Twitter betroffen zeigte, wurde unterstellt, dies nur für die Öffentlichkeit zu tun.

    Dazu mischte sich schnell ein zweiter Typus und begann mit dem Bodycount: Was das Betroffenheitsgerede solle, schließlich stürben täglich woanders viel mehr Menschen an Hunger und in Krisengebieten. Ja das ist wahr, ist aber gefährlich dicht an Dingen wie Hitler-Stalin-Vergleichen anhand der Opferzahlen. Leid soll hier relativiert werden, obwohl Leid und Mitgefühl etwas absolutes und vor allem subjektives sind. Eine solche Relativierung erlaubt nur zwei Reaktionen: Entweder sind die Tote der Loveparade egal, weil ständig irgendwo Menschen sterben, oder aber wir wir müssen ständig und permanent jedwedes Leid in der Welt betrauern – ein Ding der Unmöglichkeit.

    Genau dieses Paradox stammt übrigens aus dem christlichen Glauben, besonders aus dem protestantischen, der ja den Karfreitag als höchsten Feiertag dem Ostersonntag vorzieht und das Gewicht auf Tod und Schuld und weniger auf Auferstehung und Erlösung legt. Leid wird mit Schuldgefühlen verknüpft. Der Mechanismus lässt sich auf die Formel reduzieren: Wie kannst du fröhlich sein, wenn Jesus für dich am Kreuze starb? Wer so argumentiert, hilft nicht beim Bekämpfen von Leid, nicht bei der Verarbeitung von Trauer, zeigt kein Mitgefühl, sondern vertieft nur das Leid und pflanzt es in noch mehr Köpfe. Was passiert, wenn  man dieses Denken konsequent zu Ende führt, zeigt uns Eva Herman.

    „Sex- und Drogenorgie: Zahlreiche Tote bei Sodom und Gomorrha in Duisburg.“ trollt sie christlich-konservativ. Gönnerhaft gesteht sie am Anfang zu, dass die Toten und Verletzten „zurecht beklagt“ würden und in gerade mal einem Satz gegen Ende des Artikels findet sie Worte des Mitgefühls für Opfer und Angehörige. Der ganze übrige Artikel zeichnet ein Bild einer durch und durch verdorbenen Veranstaltung, ortet moralischen Verfall, sieht den Begriff der Liebe durch den Dreck gezogen, bebildert das ganze mit einem Foto, das ein sich küssendes lesbisches Pärchen zeigt, und schafft es nebenher noch, sich mehrere Sätze lang über die „Qualität“ der Musik auf der Loveparade zu echauffieren – mehr Sätze, als Frau Herman für die Opfer übrig hat.

    Auch sie beklagt sich über die Stadt Duisburg – von der Fehlplanung des Managements, die eine solche Katastrophe geradezu provozierte, sagt sie indes kein Wort. Die Schuld sieht sie darin, dass die Stadt überhaupt eine solche Veranstaltung zugelassen habe, der es an Sittlichkeit, Anstand und Moral fehle und die ein „kultureller und geistiger Absturz einer ganzen Gesellschaft“ sei. Frau Herman instrumentalisiert Tote, um Wind zu machen. Das ist mehr als nur Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, das ist ein verbales An-die-Wand-Stellen.

    Denn das amtliche Ende der »geilsten Party der Welt«, der Loveparade, dürfte mit dem gestrigen Tag besiegelt worden sein! Eventuell haben hier ja auch ganz andere Mächte mit eingegriffen, um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen. Was das angeht, kann man nur erleichtert aufatmen!

    Eva Herman

    Dass es sich bei diesen „anderen Mächten“ um Ufos, negative Astralenergien, Illuminaten oder Nazis aus der Antarktis handelt, können wir trotz der Publikation im Kopp-Verlag ausschließen – das ganze war in ihren Augen eine Strafe Gottes, was sie sich noch nicht einmal traut, klar zu sagen. Wer bei so etwas wie der Loveparade mitmacht, sei wohl einfach selbst schuld. Opfer, Angehörige, Trauernde und Mitfühlende dürfen sich bei Frau Herman und ihren Geistesverwandten noch zusätzlich eine Ladung Schuldgefühle abholen.

    Angesichts solch abgrundtiefer Menschenfeindlichkeit bin ich froh, wenn Menschen einfach ihr Mitgefühl zeigen – auch wenn mal ein falscher Fuffziger dabei sein sollte.

    Update: Mittlerweile wurden die Bilder ausgetauscht und zeigen eine abgedeckte Leiche, Einsatzkräfte bei der Arbeit sowie barbusige Frauen. Der Artikel wurde anscheinend noch nicht verändert, aber Screenshots des Originals kursieren sowieso durchs Netz.

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  • Tanz den Auschwitz

    https://www.youtube.com/watch?v=sDQ7rTyKzBc

    Natürlich ist es Unsinn zu sagen, nach Auschwitz dürfe man keine Gedichte mehr schreiben. Es hat zu viel Leid und Gemetzel in der Menschheitsgeschichte gegeben, um das noch zu behaupten – und ohne Kunst, Lyrik, Musik und Freude ist das Leben doch sinnlos. Gewonnen hätten all die Mörder und Blutsäufer, würden wir ihnen erlauben, uns nachträglich zu ewiger Trauer zu verdammen.

    Ja, das Überleben kann man feiern. Auch das Überleben in Auschwitz, und das fröhlich. Beim Feiern sollte man aber darauf achten, dass nicht auf denjenigen herumgetrampelt wird, die nicht überlebt haben. Ein wenig Trauer, ein wenig Anteilnahme, ein wenig Takt darf angesichts der Toten schon sein. Sollte ich als einziger meiner Familie einen schweren Autounfall überleben und auf den Gräbern meiner Angehörigen jubilieren – wie fände man das wohl?

    Es zu Gloria Ganors „I will survive“ zu tun, ist aber schon eine besondere Geschmacklosigkeit. Das Lied handelt von einer Frau, die ihren Trennungsschmerz überwunden hat und stolz ist, auch ohne ihren Ex leben zu können. Vielleicht haben die Juden ihren Schmerz wirklich überwunden und schauen jetzt genauso stolz in Zukunft , aber:

    Go on now go walk out the door
    just turn around now
    ‚cause you’re not welcome anymore
    weren’t you the one who tried to hurt me with goodbye

    Wollen die Tänzer uns wirklich das sagen?

  • Die Wurfprämie

    Bis in die 60er Jahre bekam man Kinder und brachte sie irgendwie durch. Dann kam die Pille und Kinderkriegen geriet ein wenig aus der Mode. Auf das bequeme Argument der 70er und 80er Jahre, wie man es denn noch verantworten könne, Kinder in diese verdorbene Welt zu setzen, folgte in den 90ern die demographische Debatte darüber, dass wir zu wenig Kinder kriegen. Das ganze zog sich weit in die Nullerjahre und ging einher mit der Debatte um Einwanderung und Parallelgesellschaften und kurz darauf wurde das Wort „Unterschicht“ salonfähig. Schnell verschob sich die Diskussion in der „Zeit“ und beim „Spiegel“ in die Richtung, dass vor allem gebildete Menschen zu wenig Kinder bekämen. Der ewig saufend und rauchend vor dem TV sitzenden Unterschichtler, so der Zeitgeist, kümmere sich eh nicht ordentlich um seinen Nachwuchs und solle am besten nur Gutscheine erhalten. Gleichzeitig wurde beklagt, dass speziell Karrierefrauen und Akademikerinnen einen Karriereknick und Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, sobald sie Kinder bekommen.

    Um die Lasten der ersten Wochen und Monate abzumildern, wurde bis 2005 als sozialpolitisches Instrument das Erziehungsgeld gezahlt. Eltern bekamen 24 Monate lang bis zu 300 Euro und unter Umständen nach 6 Monaten weniger, wenn sie gut verdienten. Dieses Erziehungsgeld wurde abgeschafft und durch das Elterngeld ersetzt. Für Geringverdiener und Alleinerziehende bedeutete das Elterngeld bereits 2006 eine eine Einbuße von bis zu 50%, wurden doch die genannten 300 Euro nur noch für 12-14 Monate gezahlt.

    Gleichzeitig subventioniert das Elterngeld Besserverdienende, die mindestens 300 Euro erhalten, aber bis zur Grenze von 1800 Euro 67% des letzten Nettogehaltes. Das Elterngeld war von Anfang an nicht dafür gedacht, soziale Not zu lindern, sondern Familien, die im Berufsleben stehen, zum Kinderkriegen zu animieren. Das Elterngeld war nie etwas anderes als eine eine Subvention, eine klassistische Wurfprämie für Mittel- und Oberschicht. Wenn das Elterngeld die Elternschaft Berufstätiger fördern soll, bedeuten im Umkehrschluss die Abschaffung des Erziehungsgeldes und die aktuellen Kürzungen beim Elterngeld bei Hartv IV und Minijobbern auch, dass Elternschaft bei sozial benachteiligten Menschen politisch nicht erwünscht ist.

    Leider hatte das Elterngeld bisher keinerlei Auswirkung auf die Geburtenrate – egal was Ursula von der Leyen sich so hinbiegt. Schlimmer noch: Man kam mit der Zeit auf den Trichter, dass Akademikerinnen sehr wohl auch Kinder bekommen – nur später. Bevölkerungspolitisch war das Elterngeld ein Schuss in den Ofen. Sozialpolitisch war es eine Umverteilung von unten nach oben. An der Situation vieler berufstätiger Frauen, nach der Babypause ihre Karriere nicht fortsetzen zu können und/oder keine vernünftigen Teilzeitstellen trotz ihrer Qualifikation angeboten zu bekommen, hat es ebenfalls nichts geändert, während die Kommunen bis heute nicht wissen, wie sie all die Krippenplätze bezahlen sollen, die ihnen vom Bund verordnet wurden. Die einzig positive Wirkung des Elterngeldes war es, dass es jetzt (auch in Unternehmen) weitgehend sozial akzeptiert ist, wenn Väter 2 Monate für ihre Kinder pausieren.

    All diejenigen, die sich jetzt die Augen reiben, weil es nun Minijobbern und Hartz-IV-Empfängern gestrichen werden soll (dazu zählen übrigens auch alle Menschen, die von ihrem niedrigen Gehalt nicht leben können) hätten schon 2006 das Elterngeld gar nicht erst verfechten dürfen. Vor allem ist das Elterngeld für die Eltern gedacht und nicht für Kinder. Es ging niemals darum, Kinder zu fördern oder gar Kinderarmut zu mildern. Ebenso wenig ging es darum, Elternschaft allgemein zu fördern, sondern nur besserverdienende Elternschaft. Das Verdienst Kristina Schröders besteht vor allem darin, das ehrlich und unumwunden zuzugeben – und damit auch wie unchristlich, asozial und von Standesdünkel durchdrungen die Politik der CDU ist. Elterngeld für Arme – das ist in ihren Augen eben nicht gerecht gegenüber denen, die Geld verdienen.

  • Glauben und glauben lassen

    Gezänk um die Homöopathie wieder.  Ich habe mich auch dazu hinreißen lassen und schrieb schon: Homöopathie ist empirisch nicht belegt und also reine Glaubenssache. Ich habe nichts gegen Homöopathie-Gläubige. Wirklich nicht. Es ist wie mit Religion: Alles spricht für Atheismus, trotzdem bin ich kein Atheist, sondern habe mir mein irrelevantes Weltbild zurecht gelegt, das einen Glauben einschließt, auch wenn ich keiner Glaubensgemeinschaft angehöre. Glauben ist nämlich etwas, das wir brauchen. Wir können nicht alles wissen und selber empirisch überprüfen. Wir sind ständig darauf angewiesen, Menschen und Institutionen zu glauben. Wir übernehmen, was uns plausibel erscheint, sofern wir demjenigen vertrauen, der es propagiert. Wirklich wissen tun wir individuell nur sehr wenig, oder hat hier irgend jemand einen Teilchenbeschleuniger im Keller?

    So gut wie alles, was wir zu wissen glauben, stammt aus Schulbüchern, von Lehrern, Professoren, Zeitungen und anderen Menschen – von Autoritäten. Wir versuchen, so viele Sicherungen wie möglich einzubauen, die diesen Mittlern eine Art objektive Glaubwürdigkeit verleihen – aber schon wenn wir ein paar Länder weiter reisen und uns mit der dortigen Kultur auseinandersetzen, werden wir feststellen, wie anders man die Dinge sehen kann und dass auch Wissen reine Interpretationssache sein kann, ohne deshalb gleich die Gravitation zu leugnen oder die Sonne um die Erde kreisen zu lassen.

    Glaube ist verwandt mit Schubladendenken, Bauchgefühl und Intuition, die uns hilft, Entscheidungen zu treffen, ohne die volle Faktenlage zu analysieren, und das sogar sehr erfolgreich. Wir alle – auch die härtesten Rationalisten – tun wirklich sehr viele seltsame Sachen, nur weil wir mal die Erfahrung gemacht haben, dass sie scheinbar funktionieren. Daraus entstehen Rituale und diese Rituale helfen uns sehr häufig, uns in die mentale Stimmung zu versetzen, ähnliche Situationen zu überstehen. Wollten wir permanent und in allen Lebenslagen rational reagieren, wir wären nur noch mit der Analyse von Fakten beschäftigt. Also tun wir viele Dinge intuitiv, was bei positiven Resultaten auch zu positiver Rückkopplung führt. Auch in der heutigen Zeit funktioniert ein ganz großer Teil unseres Lebens so.

    Ob jemand Traubenzucker oder Heilsteine während einer Prüfung dabei hat, ist nahezu irrelevant. (OK, der Zucker liefert Energie und hat eine messbare Wirkung, während der Heilstein Hokuspokus ist – in beiden Fällen behaupte ich aber mal, dass der Effekt ganz überwiegend ein psychologischer ist.) Ich glaube, die meisten von uns haben schon die Erfahrung gemacht, dass Rituale seelische Auswirkungen haben. (Seele ist ist hier als Psyche oder Geist gemeint, nicht als religiöses Konstrukt.) Auch die Empirie zeigt uns zum Beispiel im Placebo-Effekt und in der gesamten Psychosomatik, die nichts aber auch gar nichts mit eingebildeter Krankheit zu tun hat, dass der Mensch Effekten unterliegt, denen man mit Empirie nicht oder nur höchst mühsam beikommen kann.

    Das wirklich gefährliche am Glauben ist, dass er zur Machtausübung missbraucht werden kann – weil wir die Glaubhaftigkeit von Informationen eben auch anhand der Autorität des Absenders bewerten, und Autorität wiederum etwas ist, das unseren Glauben und unser Vertrauen voraussetzt. Missbrauche ich meine Autorität, dann habe ich das Vertrauen von Menschen verletzt. Der Mullah, der eine untreue Ehefrau zur Steinigung verurteilt, verdient ebenso wenig Toleranz wie eine Schulbehörde, die kreationismuskritische Texte in Schulbüchern zensiert. Glaube ist etwas privates, das im öffentlichen Raum über einen Diskurs hinaus nichts zu suchen hat. Nicht an Schulen, nicht im Gesundheitssystem usw.

    Es fällt uns aber sehr schwer, Glauben als Privatsache zu behandeln und Andersgläubigen gegenüber tolerant zu sein. Das Problem ist, dass beide Seiten sehr schnell glauben, sie seien die „Guten“, die die Wahrheit gepachtet hätten. Der Esoteriker, der einen Rationalisten als „spirituell unterentwickelt“ bezeichnet, ist genauso arrogant wie der Atheist, der einen Christen auslacht.

    Man könnte auch sagen:

    • Jeder von uns hat das Recht, zu glauben, was er will, egal wie abgefahren es ist. Dabei ist es völlig unerheblich, ob es sich um komplette Religionen oder den kleinen Aberglauben für zwischendurch handelt.
    • Niemand von uns hat das Recht, einen Mitmenschen aufgrund seines Glaubens, und erscheine dieser noch so absurd, herabzuwürdigen. Zu sagen, wegen seines Glaubens „gehöre jemand therapiert„, ist selbstgerecht und anmaßend.
    • Aber umgekehrt gilt genauso: Ein Glaubender hat niemals das Recht, seinen Glauben für allgemein verbindlich zu erklären oder ihn anderen Menschen zu oktroyieren. Übrigens soweit das möglich ist auch nicht seinen Kindern.

    Nein, liebe Glaubenden, das ist kein Text, der eure Weltsicht untermauert, sondern nur ein Plädoyer für Toleranz ganz allgemeiner Art, die schnell enden kann, sobald ein Homöopathie-Gläubiger andere als sich selbst mit seinen Mittelchen traktiert, ein Zeuge Jehovas seinen Kindern die Blutspende verweigert, ein Moslem von Frauen verlangt, die Burka zu tragen oder ein esoterisch angehauchter Chef seine Bewerber nach Sternzeichen und graphologischen Gutachten sortiert.

  • Homöopathie ist ein Segen fürs Gesundheitssystem

    Nun kocht er im Sommerloch wieder hoch, der Streit um die Homöopathie. Dabei geht es keinesfalls darum, die Homöopathie als solche zu verbieten, sondern nur den Krankenkassen, noch Homöopathie zu bezahlen, damit das so gesparte Geld sinnvoller verwendet werde. Ich halte zwar schlichtweg gar nichts von Homöopathie, aber muss bekennen: Ja, ich habe das Zeug auch mal genommen.

    Mein ehemaliger Hausarzt hatte mir vor Jahren ein homöopathisches Antiallergikum verschrieben und ich hatte subjektiv das Gefühl, dass es hilft. Allerdings hat er mir auch einmal ein anderes Mittel gegen etwas völlig anderes verschrieben. Eine ganze Weile später habe ich die Namen verwechselt und versehentlich das falsche Mittel gegen Heuschnupfen eingenommen – bei subjektiv dem gleichem Gefühl, dass es wirke. Und nein, dieses andere Mittel hat nichts, aber auch gar nicht mit Heuschnupfen und Allergien zu tun.

    Meine subjektive Erfahrung entspricht also den klinischen Ergebnissen, dass homöopathische Mittel nur als Placebo wirken. In dem Zeug ist nichts drin außer einer esoterischen „Energie“, die der bis zur Nicht-Existenz aufgeflöste Wirkstoff darin hinterlassen haben soll. Eine Wirkung über ein Placebo hinaus konnte in immer neuen Studien nie belegt werden. Homöopathie ist reine Glaubenssache, sonst nichts.

    Tatsächlich trägt die Homöopathie alle Merkmale eines religiösen Kultes. Das Prinzip des „Gleiches mit Gleichem heilen“ ist eine klassische Analogiehandlung, versehen mit dem Ritual des Schüttelns und Zerreibens nach bestimmten Regeln und dem Glauben an eine okkulte Kraft der Substanz, das Wasser oder die Globulikügelchen irgendwie zu energetisieren. Da jeglicher wissenschaftlicher Unterbau fehlt, kann Homöopathie nur mit mittelalterlicher Alchemie verglichen werden. Das Problem ist jedoch, dass die Homöopathie den Patienten nicht als Religion oder Esoterik angedreht wird, sondern als Wissenschaft.

    Wie für jede Religion und jeden quasi-religösen Glauben gilt die Glaubensfreiheit. Der Homöopathie-Glaube unserer Mitmenschen ist als solcher zu akzeptieren wie jeder andere Glaube auch. Natürlich kann es gefährlich werden, wenn Gläubige lieber ihre Rituale praktizieren, als zum Arzt zu gehen – aber da ist jeder Mensch für sich selbst verantwortlich. Aufregen kann ich mich nur, wenn Eltern ihre Kinder zum Homöopathen schicken, anstatt sie von Empirikern medizinisch behandeln zu lassen.

    Problematisch wird das ganze erst im Gesundheitssystem: Niemand käme auf die Idee, die Krankenkassen sollten Weihwassergaben oder Fahrten nach Lourdes finanzieren. Die Solidargemeinschaft hat nicht die Glaubensrituale ihrer Mitglieder zu finanzieren. Karl Lauterbach und alle anderen Politiker, die jetzt eine Streichung von Homöopathie aus den Kassenleistungen fordern, haben also völlig recht. Haben sie?

    Seien wir mal ehrlich: Ich weiß nicht, wie es mir in ein paar Jahren gehen wird, aber die allermeisten meiner Arztbesuche und Krankschreibungen drehten sich um grippale Infekte und ähnliches, die so gut wie nie näher untersucht werden. Stattdessen bekommt man Lutschtabletten gegen Halsschmerzen und vielleicht noch Schleimlöser. Genauso könnte man Kamille inhalieren und sich Bier warm machen. Was man vor allem braucht, sind ein paar Tage Ruhe, um sich auszukurieren. Arbeitnehmer holen sich ihren gelben Schein ab, Selbstständige biegen sich ihre Termine irgendwie hin und gehen meist gar nicht erst zum Arzt.

    Der Arztbesuch und die gegen die Symptome verschriebenen Mittel verursachen immer Kosten. Und da kommt ein großer Teil der Versicherten daher und ist freudig bereit, sich aufgrund seines Glaubens mit sehr viel preiswerteren Placebos behandeln zu lassen und dafür bei den meisten Kassen auch noch freiwillig Zusatzbeiträge zu bezahlen – könnte dem Gesundheitssystem überhaupt etwas besseres passieren?

    Homöopathie ist ein Segen fürs Gesundheitssystem und ich vermute, dass die meisten niedergelassenen Ärzte, die sie praktizieren, das ganz ähnlich sehen. Anderenfalls muss man sich fragen, auf welche Weise sie eigentlich ihr Medizinstudium rezipiert haben und was ansonsten von ihrer ärztlichen Ausbildung zu halten ist. Denn sobald Homöopathie für mehr als nur optionale Symptomlinderung verwendet wird, beginnt sie ganz schnell, gefährlich zu werden.

    P.S.: Ansonsten möchte ich allen die vorzügliche Serie „Homöopathie“ von Christian Specht ans Herz legen.