Gehörlosen-Tatort „Totenstille“

tl;dr: Große Momente, peinlicher Plot und der Mythos vom Lippenlesen

ciherz

 

Als „Totenstille“ im TV lief, fragten mich ein paar Leute um meine Meinung, da es schließlich auch um Gehörlose und das Cochlea-Implantat geht. Jetzt bin ich endlich dazu gekommen, ihn mir in der Mediathek anzuschauen. Vorweg: Mir haben etlichen Passagen ausgesprochen gut gefallen. Sehr gelungen sind die Stellen, an denen sich die Schauspieler nur per Gebärdensprache unterhalten. Diese Szenen gewinnen durch die typische Mimik gebärdender Gehörloser außerordentlich an Intensität. Teilweise sind sie (grafisch sehr geschickt) untertitelt, teilweise werden die Zuschauer auch im Regen stehen gelassen und können nur ahnen, was gerade gesprochen bzw. gebärdet wird. Damit dreht der Tatort den Spieß um, schließlich sind es sonst die Gehörlosen, die nur aus dem Kontext erschließen müssen, worum es gerade gehen könnte, wenn ihnen Untertitel und andere Hilfen fehlen. Besonders gefallen hat mir der gehörlose Schauspieler Benjamin Piwko in der Rolle des Ben Lehner. Wenn einige Szenen seine Perspektive einnehmen, wird die Welt still, ganz wie ich das von mir kenne, wenn ich das CI abschalte. Das mache ich regelmäßig und genieße die Ruhe, zum Beispiel während ich diesen Text schreibe.

Anders als ich aufgrund der Nachfragen auf Twitter dachte, spielt das Cochlea-Implantat im Film nur eine untergeordnete Rolle. Es wird deutlich, dass große Teile der Gehörlosen-Community negativ dazu eingestellt sind und viele es oft bewusst nicht tragen, weil es dazu diene, sie zu „normalen Menschen“ zu machen. Das ist tatsächlich eine weit verbreitete Einstellung in der Community, der im Film nichts entgegen gesetzt wird. Einerseits wäre es von einem Tatort wohl zuviel verlangt, dem erzählerisch eine zweite Perspektive gegenüber zu stellen. Andererseits gewinnen die Zuschauer so den Eindruck, dass die Gehörlosen vollständig das CI ablehnen, was so nur für einen kleinen, relativ radikalen Teil der Community zutrifft. Eigentlich ist der Tatort ein Portrait dieses kleinen Teils, der sich am Ende dann friedefreudeeierkuchig als überhaupt ganz toll entpuppt, weil Kommissar Jens Stellbrink nach Enttarnung des wahren Schuldigen mit ihnen ordentlich von Mann zu Mann ein Bierchen zischen, Party machen und schließlich sogar ein wenig knutschen kann.

Aber das passiert schon, nachdem der Tatort im letzten Drittel ein paar Umdrehungen zuviel bekommt und die Geschichte komplett ins Absurde abgleitet und versucht, alles an Zeitgeschehen mit in die Handlung reinzurühren, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Kommen wir also zu den wirklich schlechten Seiten des Filmes, die leider weit überwiegen: Dialoge weit jenseits jeglicher Fremdscham-Grenzen sind wir vom Tatort ja gewohnt. Genauso wie riesengroße Plotholes. Das meiner Meinung nach größte Loch im Plot: Entscheidende Wendungen beruhen darauf, dass einige Gehörlose wahnsinnig gut von den Lippen ablesen können. Das wird an verschiedenen Stellen prominent in die Handlung eingebaut, dabei können wir es getrost ins Reich der Märchen und Legenden verweisen. Lippenlesen funktioniert in verschiedenen Sprachen unterschiedlich gut, weshalb es in anderen Sprachräumen auch professionelle Lippenleser gibt, die zum Beispiel das Geschehen bei Fußballspielen auswerten. Im deutschen Sprachraum gibt es das zwar auch, aber nur wenig seriös, weil es nicht funktionieren kann. Das Deutsche ist nur zu etwa 15% lippenlesbar. Sehr geübte Lippenleser kommen auf 30%, mit Kontext ist mehr drin. Been there, done that in meiner Zeit als Hörgeräteträger am Rande der Gehörlosigkeit. Das reicht ganz sicher nicht, um ernsthaft verstehen zu wollen, was jemand auf einem Fußballplatz brüllt – oder wie im Film gezeigt aus einer gewissen Distanz zu „belauschen“, was jemand unten auf der Straße hinter einer Windschutzscheibe in ein Telefon spricht. Wir brauchen uns also weiterhin keine Sorgen zu machen, von Gehörlosen qua Lippenlesen heimlich belauscht zu werden. Damit bricht leider die ganze Prämisse der Handlung zusammen. Schade, aber Tatort halt.