S21: Was wir aus der Volksabstimmung lernen können

Die Menschen in Baden-Württemberg haben beim Volksentscheid für den Weiterbau des neuen Bahnhofs in Stuttgart gestimmt. Die Enttäuschung der Aktivisten und Demonstranten, die bis aufs Augenlicht gegen den Umbau gekämpft haben, ist riesig. Das gibt den Zynikern, die sich über die Proteste echauffieren, noch lange nicht recht. Selbstverständlich darf man gegen einen Bahnhof demonstrieren, obwohl es scheinbar wichtigere Dinge gibt. Der Widerstand gegen Stuttgart 21 war ein Erfolg – nämlich weil er dieses Plebiszit überhaupt herbeiführte.

Und das ist zugleich der Haken an der Sache: Nur weil eine Gruppe laut trommelt und in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, sie habe die Meinungsführerschaft oder vertrete gar die schweigende Mehrheit, heißt das noch lange nicht, dass das auch stimmt. Die geringe Wahlbeteiligung und die Mehrheit für den Weiterbau haben gezeigt, dass die S21-Gegner sich verkalkuliert haben. Das Ergebnis sagt nichts darüber aus, ob der Umbau des Bahnhofs nun richtig oder falsch ist, es sagt aber aus, dass die Mehrheit der Abstimmenden keine Bahnhofsnostalgiker und keine Parkschützer sind und der Mehrheit der Wahlberechtigten insgesamt die ganze Sache sogar egal ist. Wer Bäume oder Bahnhöfe retten will, muss das bitter finden.

Anhänger von Volksabstimmungen und direkter Demokratie sind jetzt hoffentlich ein wenig ernüchtert: Der größte Feind des Plebiszits ist noch immer die Ignoranz. Direkte Demokratie bedeutet, dass zwei Wölfe und ein Schaf darüber abstimmen, was es zum Essen gibt. Bestimmte Fragen (wie zum Beispiel die über die Einführung/Abschaffung der Todesstrafe) möchte ich lieber nicht ungefiltert dem Volk überlassen. Demokratie sollte eben nicht die Herrschaft der Mehrheit sondern die Herrschaft des Volkes an sich bedeuten, wozu das Abwägen von Kompromissen gehört. Egal wie groß der Ekel vor dem Politikbetrieb ist, etwas besseres als die derzeitige parlamentarische Demokratie haben wir eben weiterhin nicht – außer vielleicht Liquid Democracy.

Links der Woche

Als echte Männer noch echte Männer waren und echte LOLcats noch echte LOLcats, sorgten die Internet-Provider noch dafür, dass der Katzencontent dorthin fließt, wo er hin soll:

S21 und der Zynismus der Genervten

Der Netzprotest rund um die Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojket „Stuttgart 21“ geht ein paar Leuten auf die Nerven. Ich meine damit nicht die CDU:

Dass es um einen Bahnhof geht. Ja, darum geht es! In erster Linie und nach wie vor. (Der ganze Kram: Politik, die nicht auf’s Volk hört, Großprojekt, das sau teuer ist, Bahn die irgendwie böse ist, Korruption blablabla mag zwar teilweise auch richtig sein, ist aber eben ganz normale politische Realität und zwar überall, wo es um Städtebauprojekte geht.) […] Polizeigewalt ist immer schlimm ja. Und ich habe Mitleid und Solidarität mit jedem Opfer von Polizeigewalt. Aber in Stuttgart ist die Gewalt nicht schlimmer als der ganz normale Wahnsinn in Berlin und in Hamburg, wie er jedes Jahr mehrfach stattfindet.

mspro

Demonstrieren und sich wehren ist nur erlaubt, wenn es sich mindestens um den Atomausstieg, Hartz IV oder staatliche Überwachung geht? Eine solche Haltung entspricht dem Anspruch protestantischer Absolutheit und lässt sich auf die Formel verallgemeinern: „Wie kannst du dich über x aufregen, wenn in der dritten Welt Kinder verhungern?“ Dass dieses Denken den Menschen nicht gerecht wird, weil es dazu zwingt, permanent von allem und jedem „betroffen“ zu sein oder wahlweise mit kaltem Zynismus gar nichts mehr an sich heran zu lassen, habe ich neulich schon in anderem Zusammenhang gebloggt.

Das, was mir am übelsten aufstößt: Der ständige Verweis, dass es sich hier ja um “anständige Bürger” handeln würde und eben nicht um “linke Chaoten” und der damit implizit gegebene Verweis, dass es ja völlig ok sei, wenn der Staat Leute aus der linken Szene zusammen schlägt, aber doch nicht die braven Bürger! Geht’s vielleicht noch etwas reaktionärer? Beanspruchen die Bürgerlichen jetzt für sich etwa Sonderrechte und Sonderbehandlungen?

mspro

Es ist schon eine ziemlich arschige Haltung, einem Gewaltopfer zu sagen „Nun hab dich man nicht so, woanders wird auch geknüppelt.“ Reaktionär ist ganz bestimmt nichts an der Aussage, dass hier „ganz normale Leute“ betroffen seien. Wer schonmal auf ein paar größeren Demos war, weiß, dass es die Provokateure sehr wohl gibt, die sich Hände reibend auf die Straßenschlachten freuen – eben genauso wie es Polizeigewalt gibt. Neu an den Ereignissen in Stuttgart ist nicht einmal, dass die Polizeigewalt gegen absolut friedliche Demonstranten eingesetzt hat – neu ist vor allem, wie schnell und ungefiltert sich die Augenzeugenberichte und Videos übers Netz verbreiten. Es ist vollkommen logisch, dass die Ereignisse breite Empörung hervorrufen, gerade weil weit und breit keine Steinewerfer auftauchten:

Polizeipräsident Stumpf sprach von einer Aggressivität der Demonstranten, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr in Stuttgart gegeben habe. Stundenlang hätten die Gegner des Bahnprojekts die Polizisten verbal beleidigt und seien sie auch körperlich angegangen

Spiegel Online

Was genau ist hier also unverhältnismäßig? Klar gibt es – wie immer – ein paar Schreihälse, die in ihren Tweets und Blogposts übertreiben oder die Ereignisse für ihre Propaganda instrumentalisieren. Wenn Mspro davon genervt ist – warum sagt er es nicht und bezieht das auf den gesamten Protest?

Thomas Maier hingegen, der er in seinem Blogpost eine ähnliche Richtung einschlägt, mag ja nicht ganz unrecht haben, wenn er in Vergleichen des Schutzzaunes mit der Berliner Mauer eine Verniedlichung sieht – kommunikativ und symbolisch ist die Errichtung eines solchen Zaunes ausgerechnet am 3. Oktober trotzdem ein Desaster für die Stuttgarter Regierung.

Und Angela Merkel wagt es, die Demonstranten zu Gewaltlosigkeit aufzurufen. Kein Wunder, dass jetzt viel mehr Menschen die kalte Wut bekommen und es längst um mehr als einen Bahnhof geht. Gerade für Menschen, die sich seit Jahren oder Jahrzehnten gegen Kernkraft, Hartz IV, für den Frieden oder Netzpolitik engagieren, muss es bitter sein, dass ausgerechnet die Asterixiade um einen Bahnhofsumbau zu solchem Widerstand führt. Was wir dabei vergessen, ist aber, dass durchaus nicht wenige Menschen für Atomkraft sind oder Hartz IV angemessen finden. Egal, was wir davon im einzelnen halten: Wer will sich hier eigentlich anmaßen, für die Menschen in Stuttgart zu entscheiden, wie wichtig ihnen der Protest gegen den Bahnhofsumbau ist?

Ein Wort zur These, der Bahnhofsumbau sei demokratisch beschlossen und müsse schon alleine aus Gründen der Rechtssicherheit auch umgesetzt werden: Im Grunde genommen ist das auch schon wieder eine Verhöhnung der Demonstranten, die nicht einfach nur wegen eines Bahnhofs und ein paar Bäume auf die Straße gehen sondern wegen der extremen Kosten und des politischen Schmierenstücks, das sie über 15 Jahre miterleben mussten. Wenn Bürgermeister mit ihren Unterschriften vollendete Tatsachen schaffen und Plebiszite dadurch verunmöglichen, ist das Grund genug, auf die Straße zu gehen. „Zensursula“ war auch ein beschlossenes Gesetz mit existierenden Verträgen, die Kosten bei Wirtschaftsunternehmen verursachten und „Rechtssicherheit“ erforderten. Mit welchem Recht sind wir dagegen auf die Straße gegangen, wenn die Stuttgarter jetzt nicht sollen?

Wer S21 als demokratisch beschlossen von der Diskussion ausnehmen will, der kann nicht mehr glaubwürdig gegen irgendeinen Beschluss eines deutschen Parlaments protestieren.

The Boy in the Bubble

Foto: (CC) Flickr/Tinsel =)