Schnauze, Schmidt!

Helmut Schmidt toll finden ist einer der großen gemeinsamen Nenner unserer Zeit. Schmidt ist bis heute der Kanzler der Herzen, politisch dahin gemeuchelt auf dem Höhepunkt seiner Regierungszeit, ausgerechnet von Birne, der Witzfigur der 80er Jahre. Für meine Generation ist er eine Kindheitserinnerung wie Captain Future und „Moskau“ von Dschinghis Kahn – irgendwie auch heute noch cool, etwas peinlich aber aus einer Zeit, wo wir noch Gut (Schmidt) und Böse (Kohl) auseinander halten konnten und alles seine Richtigkeit hatte.

Am 6. März 1983 gab es Neuwahlen. Das Datum weiß ich bis heute auswendig. Ich war 9 Jahre alt, durfte bis in die Puppen aufbleiben, lernte viel über Prozente und Sitzverteilung und wartete ungeduldig auf OTTO!!!, der für den Abend angekündigt war. Das konstruktive Misstrauensvotum gegen Schmidt und die Neuwahlen ein paar Monate später waren das erste, was ich politisch bewusst wahrgenommen habe, auch wenn ich in meiner kindlichen Weltsicht im Verrat der FDP an der guten Sache einen Akt reiner Bosheit sah.

Vielen geht es ähnlich und viele verklären die Jahre zu einer goldenen Zeit, in der die Promis in Talkshows nur scheinbar klüger redeten als heute, dafür aber viel und öffentlich rauchten. Der Krisenmanager der Sturmflut von 1962 gehört nicht nur in dieselbe Ära wie Loriot, sondern ist auch ähnlich sakrosankt, was sein öffentliches Ansehen betrifft. Warum eigentlich? Dass Schmidt zur Katastrophenbekämpfung die Bundeswehr für Hilfsdienste im Innern einsetzte, wäre heute legal, war aber damals ein Verfassungsbruch, für den man Helmut Schmidt angesichts der Notlage freilich nicht verurteilen mag.

Schmidt tröstet. Wenn Ronald „Ich kann Deine Fresse nicht mehr sehen“ Pofalla zu Wolfgang Bosbach über das Grundgesetz sagt „Lass mich mit so einer Scheiße in Ruhe.“, ist das zwar – gerade auch wegen des Anlasses (Fraktionszwang) – vulgär, aber dank Schmidt Schnauze eben nicht wirklich neu und kein Grund zur Beunruhigung. 1958 warf die SPD Schmidt aus dem Fraktionsvorstand, weil der pflichtbewusste Militarist, der bis 1945 seinem damaligen Führer noch als Oberleutnant diente, lieber als Hauptmann der Reserve an einer Wehrübung teilnahm statt an den Fraktionssitzungen. 16 Jahre später erlaubte man ihm das Regieren und er sorgte via Nato-Doppelbeschluss dafür, dass atomare Kurz- und Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert wurden, deren Einsatz nicht nur Polen und die DDR sondern auch gleich noch die westliche Hälfte Deutschlands unbewohnbar gemacht hätte, ohne dass es dafür noch eines sowjetischen Gegenschlages bedurfte. Die einst friedensbewegten Grünen schuldeten ihrem Geburtshelfer viel Dankbarkeit.

Aber das war damals – wo steht er eigentlich heute? Und so als Ökonom? Der alte Keynesianer, der in den 70ern gesagt haben soll, ihm seien 7% Inflation lieber als 7% Arbeitslosigkeit, hat sich um 180 Grad gedreht. Er steht voll hinter der neoliberalen Agendapolitik Schröders. Ginge es nach Helmut Schmidt, wäre der Hartz-4-Satz zu senken, zumindest aber auf Jahre hinaus einzufrieren und der Kündigungsschutz weiter zu lockern, natürlich nicht ohne die Wochen- und Lebensarbeitszeit ohne Ausgleich zu erhöhen. Dass im so geschaffenen Niedriglohnsektor keiner mehr vom Einkommen seines Jobs leben kann, stört das Urgestein der Sozialdemokratie nicht. Immerhin wäre er für einen (niedrigen) Mindestlohn – aber erst wenn den Flächentarifverträgen auch in ihren letzten Nischen der Garaus gemacht wird und Gewerkschaften keinerlei Einfluss mehr haben.

Da ist es nur folgerichtig, dass der autoritäre Parteipatriarch ein ebenso neoliberales Überbleibsel der Agendapoltik in einer unwürdigen Buchvermarktungsveranstaltung zum Kanzlerkandidaten krönt, kurz nachdem die SPD alle Ambitionen hat fahren lassen, so etwas wie Vorwahlen nach amerikanischem Vorbild durchzuführen. Bloß nicht mehr Demokratie wagen! Die SPD hat jetzt die Wahl zwischen Steinbrück und Steinmeier – und das soll die lang erwartete Antwort der Sozialdemokratie auf immer drastischere Umverteilung von unten nach oben sein? Auf Finanzkrise, Kapitalismusversagen und OccupyWallstreet?

Wenn ich verschiedene Texte von und über Helmut Schmidt so lese, bin ich geradezu bestürzt, in wie wenig Punkten ich mit dem einst verehrten Helden meiner politischen Kindheit eigentlich übereinstimme. Die multikulturelle Gesellschaft empfindet er als Illusion und bereitet so den Sarrazins in der SPD ihren Nährboden. Den Klimawandel habe es schon immer gegeben, die Debatte sei hysterisch und all die Wissenschaftler und Klimaforscher haben vermutlich einfach keine Ahnung. Das Verfassungsgericht möge sich künftig doch bitte ein wenig mehr zurückhalten und mit seinen Urteilen dem Kanzler weniger dreinregieren. Ach ja: wählen sollte man auch besser erst mit 21 statt schon mit 18 dürfen. Und wer Visionen habe, müsse zum Arzt gehen. Gerade der letzte Satz steht für das Ende von Poltik und den Anfang der Postdemokratie und ist ein Symbol für die Ursachen heutiger Parteienverdrossenheit.

Bleibt noch die schnarrende Schneidigkeit des alten Haudegens, seine Aufrichtigkeit und Prinzipientreue. Den Menschenrechten stellt er eine allgemeine Erklärung der Menschenpflichten gegenüber, die sich allesamt ehrbar lesen. Sie leiten sich aus dem kategorischen Imperativ ab, der Ehrfurcht vor dem Leben und der Ehrfurcht vor den Rechten unserer Mitmenschen. Über diese Deklaration musste ich sehr lachen, habe ich doch beim Lesen das Bild des halstarrigen Greises vor Augen, der seine Umgebung zum Passivrauchen zwingt.

Da wird klar, dass die SPD sich nicht erst unter Schröder von der Sozialdemokratie verabschiedet hat und Willy Brandt der letzte sozialdemokratische Kanzler war. Und es sieht derzeit nicht danach aus, als ob sich das ändert. Auch dank Schmidt Schnauze.