Beim Streit um den fiktiven gehörlosen Parteivorsitzenden, um behindertenpolitische Forderungung und Themen wie Barrierefreiheit stößt man immer wieder auf einen Punkt: Den guten Willen. So arbeitet auch Not quite like Beethoven heraus, dass die gehörlose Abgeordnete Helene Jarmer auf den den guten Willen ihrer Umgebung angewiesen ist. Dieser gute Wille ist aber nichts, auf das sich Politik aufsetzen ließe. „Das klappt schon, wenn ihr einfach mal alle ganz lieb zueinander seid“, ist keine politische Forderung, sondern eine Einladung an Ellenbogenbenutzer, die Naivität der übrigen auszunutzen.
Wir kennen das aus dem Feminismus. Vordergründig, dem Gesetz nach, in Medien und im „politisch korrekten“ Umgang sind Frauen längst gleichberechtigt. Warum nur verdienen Frauen trotzdem immer noch erheblich weniger als Männer? Warum finden sich immer noch zu wenig weibliche Führungskräfte? Liegt es an den Frauen, die lieber Krankenschwester werden als BWL zu studieren? Liegt es immer noch an fehlenden Kinderbetreuungsplätzen? Ich behaupte mal, organisatorisch gibt es kaum unlösbare Probleme: Wenn Frauen nicht von sich aus wegen des „Ehegattensplitting“ aus finanziellen Gründen auf eine Karriere verzichten, scheitern sie doch an der „gläsernen Decke“, nämlich dem nicht vorhandenen guten Willen ihrer Umgebung.
Das hat sich letztes Jahr auch in der Piratenpartei gezeigt, als ein paar Frauen eine feministische Gruppe in der Partei gründen wollten und diese mit dem lächerlichen Argument abgebügelt wurden, die Piraten seien „postgender“. Selbst wenn ein paar Piraten wirklich mal reflektiert darüber nachgedacht haben und sich als „post-gender“ definieren und das nicht bloß als neue Sprachregelung anstelle von Schröders „Gedöns“ nutzen: Die Gesellschaft ist noch lange nicht so weit. Und schwups: Schon ist eine gläserne Barriere entstanden, wo eigentlich niemand eine haben wollte. Mehrere piratensympathisierende Frauen, mit denen ich geredet habe, halten sich aus diesem Grund lieber von der Partei fern.
Natürlich verbietet sich ein Vergleich zwischen Frauen und Behinderten, weil er implizieren würde, Frauen seien in irgend einer Form behindert. Frauen sind nicht behindert, aber Frauen werden behindert. Ich war mal so frech, hier den bekannten Spruch abzuwandeln, der ursprünglich lautet: „Behinderte sind nicht behindert, sondern werden behindert.“ Was auf Frauen angewandt korrekt ist, ist auf Behinderte bezogen Unfug. Kein Rollstuhlfahrer wird von seinen Mitmenschen am Gehen gehindert. Niemand hat einem Blinden die Augen verbunden und mir hält niemand die Ohren zu. Dass Behinderte zusätzlich in Teilen der Gesellschaft diskriminiert werden, ist eine völlig andere Baustelle und gehört zum Thema Diskrimierung allgemein, egal ob von Frauen, Behinderten, Ausländern oder Langzeitarbeitslosen.
Ein behinderter Mensch braucht unabhängig davon, ob er diskriminiert wird, zusätzliche Hilfen: technische Hilfen wie Rollstühle und Hörgeräte oder Barrierefreiheit im Sinne von Rampen, Untertiteln oder Hörfilmfassungen. Diese Barrierefreiheit ist im Alltag nur sehr mangelhaft gegeben. Sie so weit wie möglich herzustellen, ist der einzige Weg, behinderten Menschen ein emanzipiertes Leben mit möglichst vielen Freiheitsgraden zu ermöglichen. Problematisch ist, dass eine solche Emanzipation immer auch auf Kosten der Umwelt abläuft und sei es finanziell. Hier geht es leider nicht um so einfache Dinge wie die Abschaffung des Ehegatten-Splitting: Können wir verlangen, den Kölner Dom behindertengerecht umzubauen, damit auch ein Rollstuhlfahrer mal bis ganz nach oben kommt und runtersehen kann? Dieses absurde Beispiel zeigt, dass hier ein Ausgleich nötig ist zwischen Emanzipation Behinderter und Belastung Nichtbehinderter.
Das über den „guten Willen“ lösen zu wollen, ist aber das Gegenteil von Emanzipation. Der gute Wille degradiert den Behinderten zum Bittsteller an seine Umwelt. Ausgleichende Hilfe für Behinderte wird hier nicht an Rechte des Behinderten geknüpft sondern an die Moral der Mitmenschen. Unterwürfig muss er um Rücksicht bitten. Am Ende muss er noch dankbar sein oder darf gar Schuldgefühle entwickeln, weil man doch so großzügig ist und guten Willen zeigt. Empfange ich Hilfe von jemanden, wird es sofort viel schwieriger für mich, denjenigen zu kritisieren oder anzugreifen – ich stehe ja in seiner Schuld und er könnte mir ja diese Hilfe künftig versagen. Umgekehrt mutet die gehörlose Abgeordnete Helene Jarmer an wie eine Aristokratin, die auf ständige Anwesenheit eines „Dieners“ angewiesen ist, um als Abgeordnete zu funktionieren. Solch ein privilegierter Status hat aber leider ebenfalls nichts mit gesellschaftlicher Emanzipation zu tun, es sei denn, wir stellen die utopische Forderung, jedem Gehörlosen für das gesamte Berufsleben ständig einen Assistenten zur Verfügung zu stellen: ein rollstuhlgerechter Kölner Dom.
Letztlich ist der Appell an den guten Willen nichts anderes als verkappter Neoliberalismus: Vordergründig klingt es gut, zu sagen: Lasst doch die Leute das selber gütlich untereinander regeln; hintenrum wirken dann aber trotzdem immer das Recht des Stärkeren und der Sozialdarwinismus. Deshalb brauchen wir eine Frauenquote. Deshalb brauchen wir wieder stärkere Gewerkschaften und einen Mindestlohn. Deshalb darf Infrastruktur nicht in privater Hand sein. Deshalb ist Datenschutz im Zeitalter des Kontrollverlustes nicht obsolet sondern wird erst so richtig dringlich. Deshalb brauchen wir harte, einklagbare Rechte für Behinderte. Für Gehörlose könnte das heißen: Beschulung in Gebärdensprache, kostenfreie Gebärdensprachkurse an Volkshochschulen, Behindertenquote nicht nur in Betrieben sondern auch in Schulen und an Universitäten (verbunden mit Bußgeldern), 100 % Untertitelung des Fernsehprogrammes, auch bei Live-Sendungen, 100%ige Kostenerstattung für Hörgeräte durch die Krankenkassen usw., usw., usw.
Ein gehörloser Vorsitzender hilft mir beim Erlangen dieser Forderungen genauso wenig wie eine weibliche Bundeskanzlerin Merkel dem Feminismus. Erfolg oder Scheitern eines gehörlosen Bundesvorsitzenden beweisen genau gar nichts. Es kommt ja auch (zum Glück!) niemand auf die Idee, die Null-Kanzlerschaft von Angela Merkel als Anlass für eine erneute Diskussion zu nehmen, ob Frauen für ein solches Amt geeignet sind.
Vertraue niemals einer Politik, die kulturelle Änderungen voraussetzt und einen „neuen Menschen“ propagiert, egal ob Faschismus, Kommunismus oder Spackeria. Stelle Forderungen. Suche Gleichgesinnte. Sei laut. Lupus est homo homini. Vertrauen wir nicht darauf, dass die Wölfe künftig alle ganz lieb und nett zu Behinderten sind, bloß weil das in irgend einer Satzung steht, sondern helfen wir den Behinderten, selber vollwertige und gleichberechtigte Wölfe zu werden. Empowerment halt.