Schlagwort: Begegnung


  • Hier läuft was falsch! (Für einen neuen Ansatz in der Politik)

    Wir haben eine lange Agenda: Vorratsdatenspeicherung, Zensursula,  Filesharer, Patent- und Urheberrecht, Netzneutralität, Datenschutz, KillerspieleEgoshooter, Inkompatibilität klassischer Gesetze und moderner Arbeitswelten – das sind nur die wichtigsten Punkte, die mir spontan einfallen. Als ich neulich bei einem Glas Wein mit meiner Liebsten darüber diskutierte, hatte sie einen Gedanken, den ich einfach nur frappierend finde. Dazu muss ich ein klein wenig ausholen:

    Lieber Leser, schließen Sie einmal kurz die Augen und denken Sie zurück an das Jahr 1994. Fragen Sie sich auch manchmal, wie Sie ohne das Web (egal in welcher Versionsnummer) überhaupt leben konnten? Wie Fernsehen und Printmedien im Mittelpunkt standen? Wie Sie jemandem noch einen Brief schreiben mussten, wenn Sie ihn nicht einfach anriefen? Wie Sie die Nummer im Telefonbuch aus Papier nachschlagen mussten? Wie Sie am Telefon mit einem Sachbearbeiter und nicht einem Callcenter-Agent verbunden wurden? Oder sich mit ihren Freunden regelmäßig in der Kneipe zu treffen hatten, um „dabei“ zu sein? Versetzen Sie sich einmal in diese Zeit zurück und betrachten Sie die eingangs erwähnten politischen Probleme aus dieser Distanz. Welche Relevanz haben diese dann noch? Könnten Sie sie überhaupt verstehen?

    Und jetzt denken Sie daran, dass die ganz große Mehrheit der Deutschen noch in dieser Welt lebt, in die Sie sich gerade versetzt haben. Wenn 55 Mio online sind, sind 35 Mio es nicht. Ein sehr großer Teil nutzt das Internet nur beruflich, aber nicht privat. Und wie viele von den 33 Mio Menschen, die auch privat online sind, machen nur Homebanking, lesen ein wenig SPON und schreiben ab und zu mal eine Mail? Wieviele sind echte Netizens, die bloggen, twittern oder anders das Social Web nutzen? Für wieviele ist das Internet tatsächlich ein Lebensraum geworden? Wir Netizens sind sicher nicht wenige, aber wir sind weit in der Minderheit und die Leute da draußen haben ihre eigenen Sorgen; sie wissen und verstehen nicht, was wir hier eigentlich tun. Und warum sie das groß interessieren sollte.

    Der zentrale Gedanke: Wir bloggen und twittern im Elfenbeinturm und sind dabei ganz mit uns selbst beschäftigt . Wir müssten Begegnungen mit den Menschen da draußen herbeiführen, und genau das geschieht momentan nicht.

    Welchen Eindruck wird ein normaler Mensch haben, wenn ein nerdiger Typ „Zensur!“ schreit, während Frau von der Leyen scheinbar gegen Kindesmissbrauch kämpft? Wie reagiert ein Fließbandarbeiter bei Opel auf Sascha Lobo, der im Fernsehen erzählt, dass ohne Social Web bald nichts mehr geht, man auch prima mit dem Laptop im Café arbeiten kann und warum er trotz Aufschieberitis produktiv ist? Glaubt jemand, ein Arbeitsloser mit massiven Selbstzweifeln und Angst, nicht mehr dazuzugehören, fühlt sich angesprochen, den Kampf gegen die Vorratsdatenspeicherung zu unterstützen? Meinen Sie, Tante Hedwig von nebenan wird die Anliegen einer Partei, die sich Piratenpartei nennt, auch nur entfernt seriös finden können? Und wie sollen wir aufklären, wenn die großen Medien gegen uns sind, die selber Angst vor dem Web haben und ihrerseits nicht nur mitten im Kulturkampf sondern in einer handfesten Krise stecken?

    Die Parteien in ihrer jetzigen Form sind keine Lösung, sondern Teil des Problems: Das Ansehen der Politiker ist im Keller, das gummiweiche Politikerdeutsch kann niemand mehr ertragen, und die Meinung, dass die Volksvertreter seit langem zunächst mal ihre Partei und dann – vielleicht – noch das Volk vertreten, ist äußerst weit verbreitet. Die Politikverdrossenheit war von Anfang an eine Parteienverdrossenheit, und da werden wir nur selber hineingezogen, wenn wir Parteien gründen oder ihnen beitreten oder versuchen auf dem Marktplatz der Meinungen genauso laut zu brüllen wie die anderen.

    Ja, wir brauchen Organisation, ja, wir brauchen Intellektuelle, ja, wir brauchen theoretischen und programmatischen Überbau und all das. Aber wenn wir die Menschen erreichen wollen, müssen wir sie dort abholen, wo sie sind. Wir dürfen nicht erwarten, dass sie zu uns kommen, sondern müssen Ihnen entgegen gehen.

    Ausgerechnet die braune NPD macht es vor und organisiert Jugendlager, Stadtteilfeste, Einkaufshilfen usw. Warum macht eigentlich von der Linken bis zur CDU keine etablierte Partei, ja nicht einmal Attac etwas ähnliches? Warum erlauben wir eigentlich den Nazis einen auf Gutmensch zu machen und überlassen ihnen derart widerstandlos das Feld?

    Dabei könnte es so einfach sein: Fremdenfeindlichkeit beispielsweise lässt sich durch Integration bekämpfen. Wo ich dem Fremden begegne und in ihm den sympathischen Menschen erkenne, höre ich auf, meine Ängste auf ihn zu projezieren.

    Auf unsere Politikfelder übertragen heißt das: holen wir die Leute ins Netz, aber hören wir auf, ihnen „unsere“ Probleme aufzudrängen, sondern helfen wir ihnen, ihre eigenen zu lösen. Schließlich ist das Internet ein einmaliges Werkzeug zum Empowerment. Warum nicht kostenlose Internet-Seminare in Pflegeheimen veranstalten? Warum nicht Hartz-IV-Empfänger helfen, im Netz nach Jobs zu suchen oder sie wenigstens im Umgang mit den Ämtern beraten und unterstützen? Oder für jugendliche LAN-Parties und Programmiercamps organisieren? Immobilen Menschen zeigen, wie sie ihren Wocheneinkauf via Web bestellen und liefern lassen können? Wer sponsort DSL-Anschlüsse in Obdachlosen-Cafés? Das sind nur einige erste Ideen, weitaus mehr wäre denkbar.

    Hören wir auf die Leute vollzulabern, sondern hören wir ihnen auch zu! Versuchen wir, sie nicht als Ewiggestrige, Internetausdrucker oder Unterschicht abzuwerten. Wenn wir ihnen als Menschen begegnen und Zusammenhalt schaffen, können wir einen großen Teil unserer Probleme ganz ohne politischen Kampf lösen. Und für die restlichen Aufgaben eine enorme Anhängerschar gewinnen. Vielleicht erledigt sich das auch von alleine, wenn sowieso irgendwann alle im Netz sind. Aber so lange will ich nicht warten und unserer angeschlagenen Demokratie hilft es nicht weiter.