Behinderung? Enthinderung! Thementag bei Deutschlandfunk Kultur am 19.10.

„Behinderung? Enthinderung! – Zwischen Inklusion und Avantgarde“ ist der Titel des Thementages am Donnerstag, 19. Oktober auf Deutschlandfunk Kultur, an dem ich gerade redaktionell mitarbeite. Oder mit den Worten der Kollegen:

Menschen sind nicht behindert, sie werden dazu gemacht – durch praktische Hindernisse und durch den gesellschaftlichen Umgang mit einem vermeintlichen Nischenthema. Inklusion, Barrierefreiheit, Bundesteilhabegesetz: Behinderung wird technisch administriert, das persönliche Gespräch und der Austausch über wichtige kulturelle und gesellschaftliche Fragen ist noch immer schwierig.

Irgendwann ab 14.00 Uhr werde ich im „Kompressor“ kurzzeitig auch vor dem Mikrofon sitzen. Es wird um die kulturellen Differenzen innerhalb der Gehörlosen-Community gehen, die unterschiedlichen Perspektiven spätertaubter und gehörlos geborener Menschen und den ewigen Streit für oder gegen das Cochlea-Implantat.

Drei Thesen zu Prothetik, Inklusion und Barrierefreiheit

Auf der vergangenen re:publica haben Alexander Görsdorf, Julia Probst und ich über Barrierefreiheit und Inklusion im Internet diskutiert.

Ich wollte schon lange ausführlicher dazu bloggen, kriege das aber aus Zeitgründen nicht gebacken. Dieser kleine Talk und die (teilweise unwahren) Behauptungen über mich sind jetzt aber mal dringender Anlass, zusammenzufassen, wie ich über das Thema denke.

1. Prothetik wird Alltag

Wir bauen immer bessere Prothesen, die nicht nur helfen, Behinderungen auszugleichen, sondern auch die ursprünglichen Fähigkeiten des Menschen in den Schatten stellen. Schon sehr bald werden auch nicht-behinderte Menschen sich freiwillig Elektronik in ihren Körper implantieren lassen. Prothesen zur Optimierung des eigenen Körpers werfen politische Fragen auf: Wollen wir sie verbieten? Können wir das überhaupt? Betrachten wir die Erfolge von Oscar Pistorius, wird klar, dass der Transhumanismus an der Tür klopft und Antworten auf Fragen erwartet, die die meisten von uns noch gar nicht gestellt haben.

2. Barrierefreiheit nützt allen

Das Thema Barrierefreiheit muss endlich aus der Ecke der „Behindertenpolitik“ raus. Eine barrierefrei in HTML kodierte Webseite hilft nicht nur Blinden mit ihren Screenreadern und Braille-Zeilen, sie kann auch besser maschinell ausgewertet werden zum Beispiel für Suchmaschinen. Untertitel helfen nicht nur Gehörlosen, sondern auch Analphabeten und Legasthenikern. Stehen sie noch in mehreren Sprachen zur Verfügung, dienen sie Migranten und helfen, die europäische Einigung voranzutreiben. Wer schonmal im Zug seinen Koffer mit auf die Toilette genommen hat, wird die große Extra-Toilette für Rollstuhlfahrer sehr schätzen. Der Abbau von Barrieren nützt allen.

3. Inklusion: Der Mensch zählt

Menschen, die die Schriftsprache nicht einigermaßen sauber und eloquent beherrschen, bleiben auch im Internet benachteiligt. Barrierefreiheit hat Grenzen: Der barrierefreie Umbau beispielsweise des Prenzlauer Berges mit seinen Gründerzeithäusern ist eine Jahrhundertaufgabe. Die Forderung, die Türme des Kölner Doms mit einem rollstuhlgerechten Außenfahrstuhl auszustatten, dürfte keine Mehrheit finden.

Auch eine Prothese kann niemals perfekt sein. Gerade das Cochlea-Implantat ist ein sehr gutes Beispiel, da es Menschen, die in der Kindheit ihr Hörzentrum nicht ausbilden konnten, oft mehr Qual als Hilfe ist. Es wird immer Krankheiten und Behinderungen geben, die nicht per Prothese ausgeglichen werden können.

Zugleich ist zu befürchten, dass Menschen, die ihren Körper freiwillig prothetisch „verbessern“ selbst diskriminiert werden. Am Ende hängt deshalb alles davon ab, wie wir miteinander umgehen. Ob wir Inklusion nicht nur politisch verordnen, sondern auch leben. Das wird schwer, wenn behinderte Menschen im Alltag nicht für uns sichtbar sind. Als erstes müssen wir aufhören, unsere Kinder zu sortieren und Behinderte in Sonderschulen, Werkstätten und Wohngruppen abzuschotten.

Wichtig ist, was hinten rauskommt. Und rauskommen, wird am meisten, wenn wir Prothetik, Barrierefreiheit und Inklusion als drei Säulen eines Gebäudes betrachten, das am Ende so vielen Menschen wie möglich mehr Teilhabe und Lebensqualität bietet.

Dementi: Die obigen Aussagen sind meine persönlichen Ansichten und stellen keine Beschlusslage der Piratenpartei dar.

Der gehörlose Vorsitzende

Der gehörlose Vorsitzende ist ein Gedankenspiel der AG Barrierefreiheit in der Piratenpartei. Die Grundidee – nämlich alle Strukturen in der Partei so auszurichten, dass beispielsweise auch ein Gehörloser Vorsitzender sein könnte – begeistert zunächst und ist furchtbar sympathisch. Allerdings auch völlig undurchdacht. Das beginnt schon damit, dass Menschen mit verschiedenen Behinderungen verschiedene und leider teilweise auch konkurrierende Bedürfnisse an ihre Umwelt haben, die sich niemals vollständig realisieren lassen.

Bleiben wir beim Beispiel des Gehörlosen: Er ist in Telkos, Versammlungen, Hinterzimmergesprächen, auf Parteitagen, in Interviews und Talkrunden auf völlige Barrierefreiheit angewiesen, das bedeutet auf unbedingten und vollständigen guten Willen seiner Umgebung, so mit ihm zu kommunizieren, dass er damit zurechtkommt. Das ist etwas, worauf sich ein Politiker keinesfalls verlassen kann. Ein geflüstertes Wort am Rande, dass alle mitkriegen, nur der gehörlose Vorsitzende nicht – so etwas können sich normal hörende Menschen schlicht und ergreifend nicht vorstellen, untergräbt die Autorität. So viel Political Correctness, wie nötig wäre, um das auszugleichen, bringen auch die Piraten nicht mit.

Natürlich gibt es Mailinglisten, IRC, Wiki und Liquid Feedback. Allerdings findet Politik auch in der Piratenpartei eben dort nur teilweise statt sondern immer noch da, wo sich die Alphatiere konkret zusammensetzen und miteinander reden. Eine solche Situation nicht formalisierter Gruppengespräche überfordert nicht nur die meisten stärker schwerhörigen Hörgeräte-Träger und gehörlose CI-Träger, sondern auch Gebärdensprache-Dolmetscher, die übrigens auch nur zu bestimmten Arbeitszeiten zur Verfügung stünden und nicht unbedingt Samstag Abend um 23.00, obwohl sie dann vielleicht benötigt würden.

Bleibt noch das Argument „Oscar Pistorius„, der mit seinen High-Tech-Protesen schneller laufen kann als Menschen mit organischen Füßen. Eine solche technische Lösung ist zumindest theoretisch für fast jede Behinderung denkbar – zum Beispiel das Cochlea-Implantat für Gehörlose. Das hat aber rein gar nichts mit der Fragegestellung zu tun. In dem Moment, wo eine Behinderung technisch vollständig ausgeglichen wird, ist der Behinderte eigentlich gar nicht mehr behindert – jedenfalls nicht mehr auf eine barrierefreie Umgebung angewiesen. (Und ein solcher Kandidat könnte selbstverständlich auch eine Partei führen.)

Einem gehörlosen Kandidaten zum Bundesvorsitz würde ich jedenfalls meine Stimme verweigern. Bei mir sträubt sich alles bei dem Gedanken, einen kommunikationsbehinderten (und nichts anderes ist Gehörlosigkeit) Menschen einen Job machen zu lassen, der zu den kommunikationslastigsten überhaupt gehört. Wenn wir versuchen, mit diesem Anspruch Barrierefreiheit in der Partei durchzusetzen (und später nach außen zu tragen) weden wir zwangsläufig auf Ressentiments und Widerstände stoßen. Stattdessen sollten wir in erster Line schauen, wie wir das einfache Mitglied möglichst effektiv in die Partei und ihre (Kommunikations-)Strukturen integrieren. Ideen gäbe es etliche, z.B. keine Versammlungen mehr ohne Mikrofone und Mikroport-Anlage, um nur ein Beispiel zu nennen.

An die Spitze wählen möchte ich aber eine „handicapfreie Kampfmaschine“ für’s politische Haifischbecken. Das hat mit Diskriminierung wenig zu tun. Die ganze Debatte zeugt von einem veralteten Denken im Gegensatzpaar „behindert“ – „nicht behindert“. Der Übergang vom Haben oder Nichthaben einer Fähigkeit hin zu einer handfesten Behinderung ist durchaus fließend. Niemand wird Schwerhörige im Callcenter beschäftigen. Querschnittsgelämte arbeiten gemeinhin nicht auf dem Bau. Leute mit Problemen in Mathematik werden eher selten Ingenieur. Und trotzdem kann jemand wie Pablo Pineda Akademiker werden. Der Blick auf solche glänzenden Ausnahmen zeigt natürlich, was visionär möglich wäre, verstellt aber völlig den Blick den Alltag, die Probleme und Bedürfnisse der „ganz normalen Behinderten“, die in Deutschland in einem Ausmaß ausgegrenzt sind, von dem wir uns keine Vorstellung machen und über das wir auch nicht informiert sind. Das Gedankenspiel vom gehörlosen Vorsitzenden ist vor diesem Hintergrund Märchen- oder Leuchtturmpolitik.

P.S.: Nochmal anders sieht die Lage aus, als Abgenordneter zu kandidieren. Hier würde ich sehr wohl die Kandidatur gehörloser Menschen begrüßen. Die Arbeit als ein Abgeordneter unter vielen einer Fraktion ist aber nochmal eine ganz andere als die eines Parteivorsitzenden.

Update: Not quite like Beethoven hat mir geantwortet und ich stimme ihm durchaus zu. Besonders interessant finde ich seine Kritik an der gehörlosen Abgeordneten Helene Jarmer, die genau meine Meinung zu diesem Thema zusammenfasst.