Gehörlose, das Cochlea-Implantat und ein Genozid

tl;dr: Gehörlose haben eine ganz eigene Sicht auf das Cochlea-Implantat. Das ist mehr als verständlich, von einem „Genozid“ kann aber nicht einmal entfernt die Rede sein.

genozid

Wenn es um das Cochlea-Implantat geht, drehen die Gehörlosen gerne am Rad: Das Implantat sei „technischer Genozid“, und dieses Zitat hat sich die Aktivistin nicht selber ausgedacht: Das Wort macht schon länger unter Gehörlosen die Runde – international. Bleibt die Frage: Warum nur? Wer ein wenig die Geschichte der Gehörlosen in Europa kennt und die ganze Angelegenheit aus einer anderen Perspektive betrachtet, wird schnell verstehen.

Auf dem Mailänder Kongress von 1880 wurden pädagogische Leitlinien beschlossen, die dann über 100 Jahre lang in Deutschland und anderen europäischen Ländern galten. Da traf sich die die Zunft der Pädagogen und dachte sich Maßnahmen zur Bildung Gehörloser aus, die von völliger Ignoranz gegenüber ihrer Zielgruppe gekennzeichnet waren. Die These: Gehörlose sollen in einer hörenden, lautsprachlichen Welt klarkommen, weshalb man sie dazu erziehen wollte, selber sprechen zu lernen und per Lippenlesen zu verstehen, was gesprochen wird. In der deutschen Sprache sind aber nur etwa 15% der Wörter einwandfrei anhand des Mundbildes zu identifizieren. Lippenlesen, wie der Laie sich das vorstellt, gibt es nicht. Das Vorhaben war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, auch wenn intelligente Gehörlose mit viel Gespür, Kontext und Gewitztheit da sehr weit mit kommen. So konnte ich die Tagesschau mit Dagmar Berghoff weitgehend auch ohne Ton verstehen, solange keine Einspieler kamen.

Die Gebärdensprache war bis in jüngste Vergangenheit von den meisten Linguisten und Fachleuten als primitive Zeichensprache abgetan. Kindern in Internaten für Gehörlosen drohte regelmäßig durchaus die Prügelstrafe, wenn sie beim Gebärden erwischt wurden. Wirklich unfassbar ist, dass sich diese Zustände bis Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hielten. Wissensvermittlung in einer Sprache, die die Kinder mühelos verstehen, war völlig nachrangig. Gebärdensprache gehört oft bis heute nicht zur Qualifikation eines Gehörlosenlehrers.

Die Herangehensweise hatte zwar auch gute Seiten: Die allermeisten Gehörlosen können heute mehr oder weniger verständlich sprechen und das Wort „taubstumm“ gilt heute als verpönt, weil Gehörlose in aller Regel eben nicht stumm sind. Trotzdem hatte diese Art der Pädagogik fatale Auswirkungen. Gehörlose Kinder schlossen die Gehörlosenschulen mit einem Bildungsniveau ab, das oft kaum ihrer Intelligenz entsprach. Schlimmer: Sie waren bereits in ihrer Kindheit traumatisiert: Von ihnen wird verlangt, was selbst unter großen Anstrengungen nie ganz befriedigend zu leisten ist: In einer hörenden Welt ohne weitere Hilfen klarzukommen, während ihnen klargemacht wurde, dass ihre eigenen Kommunikationsmittel – die Gebärdensprache – gesellschaftlich unerwünscht war.

Der weitere Lebensweg ist für die meisten vorgezeichnet: Sehr schlechte Bildungsmöglichkeiten – wer beispielsweise studieren wollte, musste um jede kleine Hilfe kämpfen – in meinem Studium beispielsweise an der Uni Lüneburg gab es in den Nullerjahren durchaus noch Professoren, die sich einfach weigerten, ein Mikrofon zu tragen, damit ich – an Gehörlosigkeit grenzend schwerhörig – sie besser verstehen konnte. Meist standen oft nur die klassischen Gehörlosenberufe offen, oft weil viele Gehörlose sich kommunikativere Berufe sich selbst nicht zutrauen, schlimmer aber: Sie ihnen auch nicht von Ämtern, Bildungseinrichtungen und Arbeitgebern zugetraut wurden. Wer nichts hört, gilt auch heute noch oft als „doof“. Das hat sich tief in den Mindset gehörloser und schwerhöriger Menschen eingegraben.

Im Schatten dieser Zustände entwickelte sich eine Parallelkultur, die stark von der umgebenden Gesellschaft abgeschottet ist. Etwa 80.000 Menschen in Deutschland, ein Promille der Bevölkerung, spricht die Gebärdensprache. Sie haben ihre eigenen Treffs, ihre eigenen Sportvereine, ihre eigenen kulturellen Codes. Eine eigene Kultur hat sich herausgebildet, die durchaus reichhaltig ist, so gibt es zum Beispiel poetische Gebärdensprache und gebärdete Poetry-Slams, deren Witz und Poesie nur erahnt, wer wenigstens ein paar Einheiten Gebärdensprache gelernt hat. Dennoch ist die Gehörlosenkultur eng mit dem Mainstream verzahnt, schon sprachlich: Das Mundbild deutscher Wörter ist integraler Bestandteil der Gebärdensprache.

Diese Gehörlosenkultur hat aber einen wesentlichen Unterschied zu anderen Subkulturen: Sie ist fast hermetisch abgeriegelt. Ein Migrant in Deutschland kann mit etwas Mühe Deutsch lernen und sich damit verständigen und integrieren, ein Gehörloser kann das aus naheliegenden Gründen nicht, schließlich hört er nichts und ist auf Gebärden- oder Schriftsprache angewiesen. Umgekehrt lernt kaum jemand ohne besonderen Anlass die Gebärdensprache. Integration und Inklusion gestalten sich also mehr als schwierig. Vollkommen verständlich, dass Gehörlose ihre ganz eigene Sicht der Dinge haben und oft feindselig auf eine Gesellschaft reagieren, die sich ihnen gegenüber verschlossen und feindselig, ja unterdrückend gezeigt hat.

Vor etwas mehr als 30 Jahren kamen die ersten Cochlea-Implante auf den Markt. Verglichen mit den heutigen Implantaten und Sprachprozessoren waren sie sehr primitiv. So primitiv, dass man sie nur gehörlosen Menschen einpflanzte – wer noch ein wenig Restgehör hatte, galt noch weit in die 90er Jahre mit einem Hörgerät als wesentlich besser versorgt. Ein erwachsener Gehörloser kann mit diesen Implantaten zwar hören, aber verstehen wird er trotzdem nicht viel. Dem Gehirn fehlt ein entwickeltes Hörzentrum. In den ersten Lebensmonaten und Jahren formt sich das Gehirn aus anhand des Inputs, den es bekommt. Wer in diesen Jahren nicht hören gelernt hat, wird das auch später nicht mehr tun. Was bleiben, sind Geräusche. Das ist mehr als nichts, aber eben nicht ausreichend für ein hinreichendes Sprachverständnis.

Jeder Gehörlose kann also entweder selber eine Geschichte davon erzählen, wie schlecht und enttäuschend diese Implantate sind, oder kennt jemand, der das kann. Das Implantat wird zu einem weiteren Unterdrückungsinstrument, die Fortsetzung der Mailänder Pädagogik mit technischen Mitteln. Damit wird auch verständlich, warum viele Gehörlose so empfindlich reagieren, wenn es um die Frage geht, das Cochlea-Implantat Kindern einzupflanzen: Welch eine Quälerei muss das sein, kleinste Kinder mit diesem Folterinstrument zu malträtieren!

Dabei ist das fatale, dass das Cochlea-Implantat Kleinkindern tatsächlich hilft, zu einem „normalen“ Gehör zu gelangen. Die Erfahrungen in der Berliner Charité sind dahingehend, dass etwa die Hälfte der Kinder mit Implantat später die Regelschule besuchen und in Sprachverständnistest nahezu 100% erreichen. Von einer „Kindheit beim Logopäden“ kann dabei nicht die Rede sein: Die wöchentlichen, später 14tätigen Besuche dort enden meistens im Alter von 3-4 Jahren. Und die andere Hälfte? Die ist auf vielfältige Weise mehrfach behindert, meistens auch geistig, mit mehrfachem Therapiebedarf. Hier versuchen Ärzte und Eltern oft zu retten, was zu retten ist, was durchaus in unnötige Quälerei ausarten kann und sehr kritisch zu sehen ist.

Rechnet man diese Fälle heraus, sind die Erfahrungen mit dem Cochlea-Implantat überwältigend positiv. Genau das wiederum macht den Gehörlosen angst: Wenn wir Kindern die Gehörlosigkeit austreiben, bedeutet das ein Versiegen von „Nachschub“ für die Gehörlosenkultur. Man könnte meinen, die stirbt dann aus. Die Polemiker der Gehörlosenverbände mit ihrer Genozidrhetorik hinterlassen hier verbrannte Erde. Vor allem aber begehen sie einen logischen Kurzschluss, denn entweder, das Cochlea-Implantat funktioniert nicht gut genug: Dann wäre aber auch die Gehörlosenkultur gar nicht in Gefahr. Oder aber es funktioniert, aber dann spricht wenig gegen eine Implantation im Kindesalter.

Mit dem Wissen um den Reichtum der Gehörlosenkultur kann ich diese Angst nur bedingt nachvollziehen. Weder von Genozid noch von Ethnozid kann die Rede sein, wenn gehörlose Kinder hören können. Viele werden nämlich in hörende Familien hineingeboren, die bis dato mit der Gehörlosenkultur nichts am Hut hatten. Anders herum werden oft hörende Kinder in gehörlose Familien geboren. Die führen ein normales Leben, kennen aber eben auch die Gebärdensprache und die Gehörlosenkultur. Daran müsste sich nichts ändern. Mich erinnert diese Haltung an Arbeiterfamilien vergangener Jahrzehnte, die der Meinung waren, der Sprössling müsse nicht aufs Gymnasium: Volksschule und Lehre wie bei Papa seien gut genug. Dahinter steht einfach nur Angst um die eigene Identität und der Wunsch, seine Kinder im Käfig der eigenen Lebensweise aufwachsen zu lassen – ein Phänomen, das freilich durch alle Schichten und Subkulturen stark verbreitet ist. Genau das Gegenteil von gesellschaftlicher Inklusion.

Die Gehörlosen nennen meine Haltung – dass hören wünschenswert ist, insbesondere wenn es um den Lebensweg von Kindern geht, gerne „Audismus“ und benutzen das als Schimpfwort – aus einer quasi-nationalistischen Haltung zur Gehörlosenkultur heraus. Auf die Zustände nach dem Mailänder Kongress bezogen ja auch äußerst berechtigt. Auf das Cochlea-Implantat bezogen ist dieses Denken schlicht Minimierung von Lebenschancen und Freiheitsgraden.

Fazit: Das Cochlea-Implantat hilft nicht jedem Gehörlosen. Speziell für taub geborene, erwachsene Gehörlose ist es irgendwas zwischen Quälerei oder der Möglichkeit, wenigstens Geräusche wahrnehmen zu können. Insbesondere können wir keinesfalls Inklusionsleistungen mit dem Hinweis aufs Cochlea-Implantat zurückfahren. Den Gebärdensprachedolmetscher zu verweigern mit dem Hinweis, man könne sich ja operieren lassen, ist ein No-Go, aber offenbar verbreitete Praxis in Ämtern. Die Entscheidung für oder gegen ein Implantat muss immer der Gehörlose frei und ohne Druck treffen können.

Kinder können das allerdings nicht. Für geistig und körperlich normal entwickelte Kleinstkinder ist das Cochlea-Implantat die sehr hohe Chance auf ein hörendes Leben. Es ihnen vorenthalten zu wollen ist meiner Meinung nach grob fahrlässig und ein Ausschluss von Bildungschancen im späteren Lebensweg. Entscheiden können das freilich nur die Eltern und niemand sonst, und eine Entscheidung gegen das CI müssen wir respektieren, ohne das Kind zu benachteiligen, auch wenn ich eine solche Entscheidung in den meisten Fällen nicht gutheißen mag. Am Ende bleibt: Jeder Mensch, jeder Fall, jeder Lebensweg ist individuell und wer am lautesten schreit, ist selten in der Position, eine individuelle Entscheidung wirklich beurteilen zu können.