Das Ende der Rolle

In dem Artikel „Die Ideologie Datenschutz“ behandelt Christian Heller die Frage, ob eine totale Transparenz aller Daten nicht auch Chancen bietet, die zu einer neuen Gesellschaft führen. Der Grundgedanke dahinter ist, dass die völlige Offenlegung die Gesellschaft zur Toleranz zwingt. Als Beispiel wird die Schwulenbewegung genannt, die die Gesellschaft erfolgreich verändern konnte, dadurch dass sie sich nicht länger versteckte, sondern die Öffentlichkeit provozierte.

Der Gedanke ist bestechend, aber es bleiben ein paar Fragen: Die Überwachung aller durch aller führt zu einer verschwommenen, widersprüchlichen Gesamtidentität und Nivellierung der Rollenbilder. Im Alltag spielen wir verschiedene Rollen wie die des treusorgenden Ehemannes, die sich mit der des Puffbesuchers beißt. Der politisch Engagierte sollte am Arbeitsplatz keine Propaganda betreiben. Der Arzt wird nicht in der Gegenwart seiner Patienten rauchen.Vermutlich hängt es mit diesen Rollenbildern zusammen, dass wir laut verschiedener Studien mehrere hundert mal am Tag lügen.

Wir können im Alltag keine verschiedenen Rollen mehr spielen, wenn unsere Gesamtidentität offenbar ist. Die völlige Transparenz ist der Verlust der Hoheit darüber, was ich anderen über mich mitteilen möchte. Es wäre nichts weniger als das Ende des Geheimnisses. In der Utopie ist das wünschenswert: Niemand muss sich Sorgen wegen irgendwelcher kursierenden Daten machen, weil sie keine Sanktion nach sich ziehen. Es interessiert keinen, was jemand im Bett treibt, ob wir jetzt eine Webcam davorstellen oder nicht. Wir können in jeder Hinsicht tun und lassen, was wir wollen. Wie befreiend!

In dieser Welt müssten wir uns nur noch Scham und Tabus, die kulturelle Konstrukte sind, abgewöhnen, schon leben wir im Paradies. Das ganze erinnert mich ein wenig an vergangene Utopien wie den Sozialismus, den Neoliberalismus, den Faschismus, wo im Zuge kultureller Veränderungen immer auch der „neue Mensch“ proklamiert wurde. Meistens wurde nach Ende der Party verkatert festgestellt, dass der Mensch so neu doch nicht ist und weiterhin archaischen Verhaltensweisen verhaftet bleibt.

Können wir den Hang zur Abgrenzung, Gruppenbildung bis hin zu Aggression und Krieg wirklich einfach so abschalten? Warum sollte das definierende „wir“ in Zukunft nicht an diskriminierenden Merkmalen, also Daten festgemacht sein? Was ist, wenn die totaltransparente Gesellschaft doch auf die Idee kommt, Merkmale oder Verhaltensweise wieder zu Stigmata zu machen und zu sanktionieren? Ist der Mensch an sich gut? Was passiert, wenn Machtfragen ins Spiel kommen? Und wäre es nicht besser, für den Fall der Fälle einen geschützten Raum zu behalten, und zwar ohne dass uns das Betreten dieses geschützten Raumes verdächtig macht?

Wer etwas schützen will, hat Angst. Angst ist allerdings ein Überlebensinstinkt.