Peter Altmaier, Malte Spitz und die Piraten

Der Tag brachte zwei bemerkenswerte Artikel von Spitzenpolitikern konservativer Parteien: Der eine liest sich ganz fluffig und gerade auch für Offliner sehr verständlich, zeugt aber beim erneuten Lesen von tief gehenden Gedanken zum Phänomen Piratenpartei und zur Netzkultur, die sich der Autor gemacht hat. Der andere simuliert Fachwissen, häuft aber nur Gemeinplätze an. Beginnen wir mit dem zweiten: Malte Spitz, Mitglied im Bundesvorstand der Grünen, beginnt seinen SPON-Artikel mit einer Respektbekundung, behauptet dann aber, die Piratenpartei habe nicht nur keine Inhalte, sie stammten auch noch nicht mal von den Piraten. Abgesehen davon, dass es paradox ist, klingt das wie ein Vorwurf an Kommunisten, sie hätten sich das ja alles gar nicht selber ausgedacht sondern von Marx geklaut.

Es stimmt: die großen netzpolitischen Schlachten der letzten Jahre wurden nicht von der Piratenpartei geschlagen, sondern vom CCC, vom AK Vorrat, vom AK Zensur, FoeBud e.V. und anderen Gruppen. Das kann auch gar nicht sein, die Piratenpartei ist nämlich nicht Vater dieser Auseinandersetzungen sondern ihr Kind. Sicher: gegründet wurde sie schon 2006 – in ihrer heutigen Form nahm sie jedoch erst 2009 Gestalt an. Der Vorwurf ist also ungefähr so albern wie den Grünen vorzuwerfen, ihre Politik sei von Greenpeace oder der Antiatombewegung geklaut, wo im übrigen auch Mitglieder anderer Parteien mitmachen würden.

Die Piratenpartei, so behauptet Malte Spitz, inszeniere ihr Anderssein nur. Für eine Inszenierung braucht man freilich jemanden, der inszeniert – und so jemand ist bei den Piraten nun wirklich weit und breit nicht zu sehen. Die Wurzeln der Piratenpartei gehen diffus auf den kalifornischen 60er-Jahre-Zeitgeist der ersten Programmierer, die Erfinder des Internet und auf die Hacker-Ethik zurück, aber auch auf das ganz aktuelle Lebensgefühl der hier und jetzt mit dem Internet sozialisierten Menschen, die heute überwiegend unter 30 Jahre alt sind.

Sie ziehen ihre Agenda nicht aus einer zentralen Ideologie, sondern aus dem Lebensgefühl einer Generation, welches sich gerade erst allmählich zu so etwas wie Ideologie formt. Der Kulturwissenschaftler Michael Seeman legt das knapp, verständlich und lesenswert dar: Ein, wenn nicht der zentrale Wert der Piratenpartei ist die „Netz- oder Plattformneutralität“. Für diesen sperrigen Begriff wünsche ich mir noch einen Ersatz, der das Prinzip stärker auf die gesamte Gesellschaft erweitert, aber man kann damit arbeiten. Von der Kernforderung, Information müsse frei zugänglich sein und niemand dürfe von ihr abgeschnitten werden, wird dieses Prinzip auf immer neue Lebensbereiche übertragen:

Ein Beispiel ist die Vision vom bedingungslosen Grundeinkommen, das helfen soll, allen ohne Diskriminierung eine ökonomische Teilhabe zu ermöglichen. Die Sozialpiraten arbeiten gerade u.a. an der konkreten Umsetzung: Eine schlagartige Einführung ist ja nicht zu erwarten – wie könnten die vorhandenen sozialen Systeme nach und nach in dieser Richtung transformiert werden? Ein weiteres Beispiel auf lokaler Ebene: kostenloser öffentlicher Nahverkehr für alle über eine kommunale Abgabe. Das ärgert zwar die Autofahrer, die keine Lust haben, die Bahn mit zu bezahlen, aber was mit GEZ und öffentlich-rechtlichen Sendern möglich ist, sollte auch bei der meiner Meinung nach viel wichtigeren Mobilität denkbar sein.

Ein letztes Beispiel, das besonders deutlich illustriert, wie wenig die Piratenpartei von ihren Konkurrenten verstanden wird, ist die Frauenquote. Sie wird von den Piraten abgelehnt, weil sie Diskriminierung zwischen den Geschlechtern zementiert anstatt sie abzubauen. Unausgegorene Ideen wie der „Frauenstudiengang Informatik“ an der HTW Berlin, der allein erziehenden Müttern das Studieren in Teilzeit ermöglicht, zeigt die Beschränktheit des Quotendenkens: Warum ist so etwas an einige wenige Studiengänge gekoppelt und nicht einfach Standard? Und was ist, wenn allein erziehende Väter in Teilzeit studieren wollen?

„Piraten machen es sich leichter“, ist der Artikel von Malte Spitz überschrieben. Ansichten und Forderungen wie letztgenannte müssen gerade im linken Spektrum, zu dem die Piratenpartei ja irgendwie auch gehört, nicht nur mühsamst erklärt werden – man kann ganz schön politische Haue dafür bekommen, und zwar von allen Seiten. Da tun die Piraten vieles, aber leicht machen sie sich nichts.

Das waren nur wenige Beispiele und in der Piratenpartei wird fleißig weiter an Inhalten gearbeitet. Man sieht das bloß nicht so, weil darüber nicht auf Parteitagen und im Feuilleton gestritten wird, sondern im Netz. Also zurück zur Netzpolitik, zur Frage, wie tief greifend das Internet die Gesellschaft verändert. Einer, der das verstanden hat, ist Peter Altmaier, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Bundestagsfraktion. In seinem FAZ-Artikel beschreibt er, wie ihm allmählich bewusst wird, wie dramatisch die Umwälzungen sind, die das Internet mit sich bringt, und dass das längst noch nicht im öffentlichen Bewusstsein angelangt ist.

Zwar redet Altmaier noch vom „Virtuellen“, das „in die Realität schwappe“, als sei früher nicht real gewesen, was im Netz geschehe, das ändert aber nichts an der Richtigkeit seiner Diagnose: „Die politische Freiheit und Gleichheit der Bürger realisiert sich im Netz zum ersten Mal in Permanenz.“ Es geht aber nicht nur darum, das Politik schneller wird, die Reaktionszeiten kürzer und heute Facebook und Twitter im Auge zu behalten sind – sondern auch darum, dass die aller meisten Politiker und Mitglieder der Elite des Landes das noch nicht verstanden haben und mit Verachtung und Spott auf die Netzkultur reagieren. Reagiert mein Volksvertreter so auf meine Alltagsgewohnheiten, reagiere ich als Wähler wiederum gerne, indem ich mir einen anderen Volksvertreter suche, der mich und meinen Alltag versteht. Wenn man nicht aufpasst, entsteht so rubbeldiekatz eine neue Partei.

So lange Unionspolitiker wie Peter Uhl ihre Ignoranz demonstrativ vor sich hertragen, droht die CDU nicht gerade, zur zweiten Piratenpartei zu werden. Leider spielt Peter Altmaier hier wissentlich oder unbewusst in einem „Good-Cop-Bad-Cop“-Spiel mit. Sein restlicher (übrigens sehr lesenswerter) Artikel ist „Netzpolitik in a Nutshell“. Guttenplag, Wikileaks, Twitter, Schwarmintelligenz, Netzkultur und Occupy Wallstreet: All das wird dem meist konservativen FAZ-Leser nahe gebracht. Das macht sichtbar: Viele dieser Themen haben nichts mit der Piratenpartei zu tun. Das ist aber kein Makel, schließlich muss lange nicht alles von der Piratenpartei thematisch angenommen werden, bloß weil es das Internet als gesellschaftliches Betriebssystem benutzt – vielmehr geht es den Piraten um dieses Betriebssystem selbst. In der Gentechnik werden manipulierte Viren verwendet, um Gene in einen Organismus einzuschleusen. Analog dazu hat für mich die Piratenpartei die Funktion, Meme in den Politikbetrieb einzuschleusen.

Ich finde, das macht sie sehr gut.

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